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Zum ersten Mal verliebt

Titel: Zum ersten Mal verliebt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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»Irgendwann wird er gehen. Aber das werde ich nicht ertragen.«
    Walter schrieb, jemand hätte ihm einen Umschlag mit einer weißen Feder geschickt.
    »Das habe ich verdient, Rilla. Ich hätte sie mir anstecken sollen, damit ganz Redmond sieht, was für ein Feigling ich bin. Die Jungen in meinem Alter gehen alle, einer nach dem anderen. Jeden Tag kommen zwei oder drei hinzu. An manchen Tagen bin ich fast so weit, es ihnen nachzutun. Doch dann sehe ich vor Augen, wie ich einen anderen Menschen mit einem Bajonett ersteche, vielleicht einen verheirateten Mann oder den Geliebten einer jungen Frau oder den Sohn einer Mutter, vielleicht den Vater kleiner Kinder. Und ich sehe, wie ich zerrissen und zerfleischt daliege auf einem kalten, nassen Feld und vor Durst vergehe, um mich herum lauter Sterbende und Tote. Und dann weiß ich, dass ich es nie schaffe. Ich kann nicht einmal den Gedanken daran ertragen. Wie könnte ich da erst die Wirklichkeit ertragen? Manchmal wünschte ich, ich wäre nie geboren. Das Leben war für mich immer so etwas Schönes und ich wollte es noch schöner machen. Dabei ist es jetzt so abscheulich. Rilla-meine-Rilla, wenn deine Briefe nicht wären, deine lieben, aufheiternden, fröhlichen, lustigen, komischen und vor allem so vertrauenden Briefe! Ich glaube, ich würde aufgeben. Und ohne Unas Briefe genauso. Una ist wirklich ein feiner Mensch, findest du nicht? Sie weiß genau, was sie will, obwohl sie nach außen hin wie ein scheues, sehnsuchtsvolles, kleines Mädchen wirkt. Sie hat zwar nicht so ein Talent wie du, lange Briefe zu schreiben, die einen zum Lachen bringen, aber ihre Briefe haben etwas ganz Besonderes - ich weiß nicht, was -, das mir während des Lesens das Gefühl gibt, ich könnte tatsächlich an die Front gehen. Nicht, dass sie mir das nahe legt. Sie deutet es noch nicht mal an. Nein, so ist sie nicht. Es ist die Stimmung in ihren Briefen, die Persönlichkeit, die darin steckt. Wie dem auch sei, ich kann nicht gehen. Du hast einen Bruder, und Una hat einen Freund, der ein Feigling ist.«
    »Warum muss Walter nur so etwas schreiben«, seufzte Rilla. »Es tut mir weh. Er ist kein Feigling. Nein, das ist er nicht!« Sie schaute voller Sehnsucht um sich: auf das kleine, bewaldete Tal und die grauen, einsamen Brachfelder, die dahinter lagen. Wie sehr erinnerte sie das alles an Walter! Die roten Blätter hingen immer noch an den Zweigen der Wilden Rose, die sich über eine Bachkrümmung spannten. Ihre Stämme waren besetzt mit den Perlen des sanften Regens, der eben gefallen war. Walter hatte einmal ein Gedicht darüber geschrieben. Der Wind seufzte und raschelte im raureifbedeckten braunen Farn und machte sich dann klagend bachwärts davon. Walter hatte einmal gesagt, dass er die Melancholie des Herbstwindes an einem Novembertag liebte. Und da waren die alten Bäume, denen Walter einst Namen gegeben hatte: die »Drei Liebenden«, die einander immer noch treu umarmten, und die »Weiße Dame«, die zu einem großen Baum mit weißen Ästen herangewachsen war. Wie schön sie sich gegen den grauen Samthimmel abhoben! Letzten November, als Walter mit Rilla und Miss Oliver einmal im Tal spazieren gegangen war, hatte er beim Anblick der blattlosen Dame und des silbernen Neumonds gesagt: »Eine weiße Birke ist wie ein schönes heidnisches Mädchen, das nie das Geheimnis Edens verloren hat: nackt zu sein und sich nicht zu schämen.« Und Miss Oliver hatte gesagt: »Daraus solltest du ein Gedicht machen, Walter.« Und genau das hatte er getan und es ihnen am nächsten Tag vorgelesen. Es war nur ein kurzes Gedicht, aber jede Zeile steckte voller Geheimnis. Ach, wie glücklich waren sie da gewesen!
    Schließlich rappelte Rilla sich auf. Es wurde Zeit: Jims würde gleich aufwachen. Seine Mahlzeit musste zubereitet werden und seine kleinen Höschen mussten gebügelt werden. Außerdem sollte das Rotkreuz-Komitee am Abend Zusammenkommen, und sie musste ihre Tasche fertigstricken, bestimmt die hübscheste Tasche von allen, sogar noch hübscher als die von Irene Howard. Also nichts wie nach Hause und an die Arbeit! Sie war in diesen Tagen von frühmorgens bis spätabends beschäftigt. Der kleine Jims beanspruchte am meisten Zeit. Aber er wuchs, ja, er wuchs zusehends. Und es war nicht nur ein frommer Wunsch, sondern absolute Tatsache, dass er langsam aber sicher viel besser aussah. Manchmal war Rilla richtig stolz auf ihn. Und manchmal hätte sie ihn am liebsten verdroschen. Aber sie küsste ihn nie und

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