Zum ersten Mal verliebt
wollte das auch nicht.
»Die Deutschen haben heute Lodz erobert«, sagte Miss Oliver eines Dezemberabends, während sie, Anne und Susan im gemütlichen Wohnzimmer saßen und nähten beziehungsweise strickten. »Dieser Krieg übersteigt langsam meine Geografiekenntnisse. Jetzt bin ich schon Schulmeisterin und habe vor drei Monaten noch nicht gewusst, dass es einen Ort wie Lodz überhaupt gibt auf der Welt. Und selbst wenn ich es schon mal gehört hätte, dann hätte ich nichts darüber gewusst. Wozu auch? Jetzt weiß ich alles darüber: über seine Größe, sein Ansehen, seine militärische Bedeutung. Und als gestern die Nachricht kam, dass die Deutschen es bei ihrem zweiten Ansturm auf Warschau erobert haben, da ist mir der Mut gesunken. Ich bin in der Nacht aufgewacht, weil es mich so beunruhigt hat. Mich wundert es nicht, dass Babys immer schreien, wenn sie nachts aufwachen. Mir drückt dann alles auf die Seele und ich sehe keinen Lichtblick mehr.«
»Wenn ich nachts aufwache und nicht wieder einschlafen kann«, sagte Susan, die gleichzeitig strickte und las, »dann bringe ich die Zeit herum, indem ich den Kaiser zu Tode quäle. Letzte Nacht habe ich ihn in siedendem Öl fritiert, und das war eine ganz schöne Genugtuung für mich, wenn ich an die armen belgischen Babys denke.«
»Wenn der Kaiser hier wäre und er hätte Schmerzen in der Schulter, dann wären Sie doch bestimmt die Erste, die ihm mit einem Einreibmittel kommt«, lachte Miss Oliver.
»So, meinen Sie, Miss Oliver?«, ereiferte sich Susan. »Ja, mit Petroleum würde ich ihn einreiben, bis er Blasen kriegt. Das würde ich mit ihm machen, darauf könnt ihr euch verlassen. Und was heißt hier Schmerzen in der Schulter! Vor Schmerzen krümmen wird der sich, noch ehe er fertig ist mit dem, was er angefangen hat.«
»Wir sollen unsere Feinde lieben«, sagte Gilbert mit ernster Stimme.
»Ja, unsere Feinde, aber nicht die von König Georg, lieber Doktor«, knirschte Susan. Sie war richtig stolz auf sich, dass sie dem Doktor einen Dämpfer aufgesetzt hatte, sodass sie sogar grinsen musste, während sie ihre Brille polierte. Susan hatte eine Brille bisher immer abgelehnt, aber schließlich klein beigegeben, damit sie wenigstens die Kriegsnachrichten lesen konnte. Und es entging ihr wirklich nichts. »Können Sie mir sagen, liebe Miss Oliver, wie man M-l-a-w-a ausspricht oder B-z-u-r-a oder P-r-z-e-m-y-s-1?«
»Letzteres ist ein Rätsel, das anscheinend noch niemand gelöst hat, Susan. Und bei den beiden anderen Namen kann ich auch nur raten.«
»Diese ausländischen Namen sind wirklich das Letzte, finde ich«, schimpfte Susan.
»Für die Österreicher und die Russen klingt Saskatchewan und Musquodoboit wahrscheinlich auch nicht besser als für uns, Susan«, sagte Miss Oliver. »Die Serben waren übrigens großartig. Sie haben Belgrad eingenommen.«
»Und die Österreicher mit einer schweren Abfuhr über die Donau geschickt«, sagte Susan genüsslich, während sie sich eine Landkarte von Osteuropa vorknöpfte und die einzelnen Orte mit ihrer Stricknadel anstach, um sie sich ins Gedächtnis zu prägen. »Cousine Sophia hat vor kurzem gesagt, Serbien wäre erledigt, aber da habe ich zu ihr gesagt, dass es immer noch so was wie eine übermächtige Vorsehung gibt, ob man’s glaubt oder nicht. Hier heißt es, dass es ein ganz furchtbares Gemetzel gegeben hat. Auch wenn das alles Ausländer waren, ist es doch eine schreckliche Vorstellung, dass so viele Männer sterben mussten, liebe Frau Doktor. Wo sie doch sowieso so spärlich gesät sind.«
Rilla war währenddessen oben und entlud ihre angestauten Gefühle in ihrem Tagebuch.
»Diese Woche ist bei allem, was ich anpacke, der Wurm drin. Zum Teil war es meine Schuld, zum Teil aber auch nicht, aber für mich ist beides gleich schlimm.
Neulich bin ich in der Stadt gewesen, um mir einen neuen Winterhut zu kaufen. Es war das erste Mal, dass ich mir alleine einen aussuchen durfte, und das zeigt immerhin, dass Mutter mich nicht länger für ein Kind hält. Ich habe den allerhübschesten Hut gefunden! Er war einfach atemberaubend schön. Es war ein Samthut in saftigem Grün, wie für mich geschaffen! Er passt einfach wunderbar zu meinem Haar und meiner Hautfarbe. Diesen Grünton, der mir so gut steht, habe ich bisher erst ein einziges Mal gefunden. Als ich zwölf war, da hatte ich einen kleinen Biberhut in derselben Farbe und alle Mädchen in der Schule waren ganz wild auf ihn. Jedenfalls, kaum hatte ich diesen
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