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Zum ersten Mal verliebt

Titel: Zum ersten Mal verliebt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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allen vieren herum und transportiert Sachen in seinem Mund wie ein kleiner Hund. Es kann wirklich niemand behaupten, er wäre ein Nachzügler im Krabbeln. Im Gegenteil, er ist sogar frühreif, denn laut Morgan sind die Babys zehn Monate alt, wenn sie anfangen zu krabbeln. Er ist so niedlich, es wäre wirklich eine Schande, wenn sein Vater ihn nie zu Gesicht kriegen würde. Sein Haar wächst jetzt merklich, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass er Locken bekommt.
    Während ich gerade über Jims und das Konzert geschrieben habe, habe ich tatsächlich Ypres und das Giftgas und die Opferlisten vergessen. Aber jetzt stürzt alles wieder auf mich ein, schlimmer als vorher. Wenn wir wenigstens wüssten, ob es Jem gut geht! Früher, wenn er mich >Spinne< nannte, hatte ich immer so eine Wut auf ihn. Aber wenn ich mir vorstelle, er würde jetzt pfeifend durch den Flur dahermarschieren und mir »Hallo, Spinne!< zurufen, dann käme mir das wie der schönste Name der Welt vor.«
    Rilla legte ihr Tagebuch beiseite und ging hinaus in den Garten. Was für ein lieblicher Frühlingsabend! Die Dämmerung breitete sich über dem weiten grünen Tal aus, das sich bis zum Meer hin erstreckte, und am Horizont leuchtete die untergehende Sonne und tauchte den Hafen teils in Purpur, teils in Azur und Opal. Das Ahornwäldchen verwandelte sich nach und nach in nebelhaftes Grün. Rilla schaute mit sehnsüchtigen Augen um sich. Wer hatte behauptet, der Frühling wäre die schönste Jahreszeit? Er war die traurigste aller Jahreszeiten. Und all die blasspurpurfarbenen Morgendämmerungen, die Narzissensterne und der Wind in der alten Pinie waren wie Stiche ins Herz. Ob wohl das Leben irgendwann einmal wieder ohne Schrecken sein würde?
    »Wie schön, noch einmal den Sonnenuntergang von Prince Edward Island zu sehen«, sagte Walter, der sich zu ihr gesellte. »Ich habe gar nicht mehr gewusst, wie blau das Meer ist und wie rot die Straßen und wie märchenhaft die Schlupfwinkel des Waldes. Ja, die Feen, die gibt es hier immer noch. Ich wette, ich würde unter den Veilchen im Regenbogental viele von ihnen finden.«
    Rilla war plötzlich ganz gerührt. Das war Walter, wie sie ihn von früher her kannte. Hoffentlich war er jetzt langsam über die Sorgen hinweg, die ihn quälten.
    »Und sieh nur, wie blau der Himmel über dem Regenbogental ist«, sagte sie und ließ sich von seiner Stimmung anstecken. »Blau, blau, man müsste dieses >blau< hundertmal laut aussprechen, ehe man ausdrücken kann, wie blau er ist.«
    Da marschierte Susan vorbei, einen Schal um den Kopf gewickelt und die Hände voller Gartengeräte. Heimlich und mit funkelnden Augen schlich Doc zwischen den Geißbartstauden neben ihr her.
    »Kann schon sein, dass der Himmel blau ist«, sagte Susan, »aber dieser Kater hat sich wieder den ganzen Tag wie Mr Hyde aufgeführt, das heißt, es wird wohl Regen geben, und das Rheuma in meiner Schulter deutet auch daraufhin.« »Soll es regnen! Aber denk nicht an Rheuma, Susan, denk an Veilchen«, sagte Walter fröhlich. Fast schon zu fröhlich, dachte Rilla.
    Susan fand, dass er wenig Mitgefühl zeigte.
    »Wirklich, mein lieber Walter, ich wüsste nicht, wieso ich jetzt an Veilchen denken sollte«, schnaubte sie. »Mit Rheuma ist schließlich nicht zu spaßen, das wirst du eines Tages vielleicht selber noch merken. Ich will nicht hoffen, dass ich zu den Wehleidigen gehöre, die immer nur jammern und sich selbst bedauern. Es gibt schließlich Schlimmeres heutzutage. Rheuma ist zwar schlimm, aber von den Hunnen vergiftet zu werden ist mit Sicherheit schlimmer.«
    »Lieber Gott, nein!«, rief Walter fassungslos. Er wandte sich um und ging ins Haus.
    Susan schüttelte den Kopf. Solche Gefühlsausbrüche konnte sie überhaupt nicht leiden. Hoffentlich hört seine Mutter das nicht, dachte sie, während sie ihre Hacken und Rechen wegräumte.
    Rilla stand mit Tränen in den Augen zwischen den Narzissen. Der Abend war ihr verdorben. Sie war wütend auf Susan, weil sie Walter verletzt hatte. Und Jem, war Jem womöglich auch vergiftet worden? Musste er einen qualvollen Tod sterben? Ich kann diese Ungewissheit nicht länger ertragen, dachte Rilla voller Verzweiflung.
    Aber sie musste die Ungewissheit eine weitere Woche ertragen, so wie die anderen auch. Dann endlich kam ein Brief von Jem. Es ging ihm gut.
    »Ich bin ohne einen Kratzer davongekommen, Vater«, schrieb er. »Es ist wie ein Wunder, dass uns nichts geschehen ist. Du wirst wohl alles in der Zeitung

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