Zum Frühstück kühle Zärtlichkeit
Er hatte nicht viel gesagt, nicht einmal seinen Namen. Nur diesen einen Satz: »Bestellen Sie Laura, daß ihr Mann vor einer Stunde schwer verunglückt ist.«
Normann rief die Krankenhäuser der Reihe nach an. Warum tat er das? Warum setzte er sich in sein Auto und fuhr auf dem kürzesten Weg in die Universitätsklinik?
Normann überlegte nicht. Er stellte sich keine Fragen – am allerwenigsten die, warum er plötzlich das Gefühl hatte, für das Leben Viktor Riffarts mitverantwortlich zu sein.
Auf dem Weg zum Operationssaal traf er Dr. Kurt Lüth, den Neurochirurgen der Universitätsklinik. Er verzichtete auf jede Vorrede. »Wie geht es Herrn Riffart?«
»Um ehrlich zu sein«, erwiderte der Chirurg, »nicht besonders. Der Schädelknochen ist eingebrochen, die Blutgefäße darunter sind zerrissen. Blutung in der Schädelhöhle – na ja, Sie wissen ja!«
Normann wußte es. Es bedeutete, daß Viktor Riffart nicht mehr viele Chancen hatte. »Ist er noch einmal zu sich gekommen?«
»Nein. Durch die Blutung ist das Gehirn unter Druck gesetzt.«
Normann überragte Dr. Lüth fast um einen Kopf. Sie gingen nebeneinander die Treppe hinunter.
»Kennen Sie ihn?« fragte Lüth.
»Ja.«
»Ein Freund?«
Normann schwieg. Was gab es darauf für eine Antwort? Was hätte wohl Viktor Riffart, der da vorn hinter den weißen Türen des OP um sein Leben kämpfte, darauf geantwortet?
Er dachte an Laura. Morgen früh um zehn wäre sie von Viktor geschieden worden, meinetwegen. Laura, ich liebe dich – was bedeutete das angesichts des Todes, angesichts von Schuld und Verstrickung?
Das Hemd klebte Normann am Körper. Er hatte das wahnsinnige Bedürfnis, umzukehren, die Flucht zu ergreifen. Stumm biß er die Zähne zusammen.
Vor dem Operationssaal blieben die beiden Ärzte stehen.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich bei der Operation dabei bin?«
Nein, natürlich hatte der Kollege nichts dagegen. Normann mußte sich nur das sterile Zeug anziehen, das Gesichtstuch umbinden, die Hände desinfizieren.
Ein Dunst von Jod, Alkohol und Blut lag in der Luft. Die grellen Lampen blendeten ihn. Drei Ärzte, zwei Schwestern, alle die weißen Masken vor dem Gesicht, umstanden den Operationstisch.
Dr. Lüth nickte seinem Team zu und sagte leise, aber doch ganz deutlich: »Das ist Doktor Normann. Er wird die Operation verfolgen.«
Normann fühlte Augenpaare auf sich gerichtet, und er erschrak. Nicht wegen der Ärzte und Schwestern. Was die über einen verrückten Psychiater dachten, war ihm gleichgültig. Er erschrak, weil er auf dem Operationstisch Viktor Riffarts Gesicht sah, sehr blaß, fast grau.
Ein Freund?
Nein, Doktor Lüth, wir sind keine Freunde. Wir sind Todfeinde. Ich bin der Mann, der seine Ehe zerstört hat. Und jetzt starre ich auf seinen kahlgeschorenen, blutig verfärbten Schädel, auf das weiße Tuch, das seinen Körper zudeckt, auf das Gummirohr im Mund, durch das er künstlich beatmet wird.
Normann sah, wie das Skalpell die Kopfhaut bis auf die Knochen durchschnitt, wie die Haut mit Haken auseinandergezogen wurde, wie der Chirurg die elektrische Bohrmaschine ansetzte.
Jeder Ton im Raum erstarb. Nur das Knirschen des Bohrers war zu hören, der sich durch die Schädeldecke fraß. Und das Geräusch des Elektrokardiographen, der die Herzschläge des Patienten in Kurven aufzeichnete und sie auf Papierstreifen ausspuckte.
Warum bin ich hier, dachte Normann. Um ihn sterben zu sehen? Um später zu Laura sagen zu müssen: »Ich war dabei, wie sein Herz plötzlich stillstand. Er ist nicht zu sich gekommen. Er hat nichts gespürt, nichts mehr gewußt«?
Sollte das ein Trost sein?
Nein, dachte Normann. Viktor muß leben. Er muß aufwachen, gesund werden. Es ist unsere einzige Chance. Wenn er stirbt, werden wir niemals glücklich sein können. Unsere Schuld wird uns erdrücken.
»Säge«, sagte Dr. Lüth.
Hände in Gummihandschuhen griffen ineinander, Augen verständigten sich, Köpfe beugten sich über das Operationsfeld, Instrumente klapperten leise.
Heiß war es.
Der Schweiß rann Normann unter der Maske ins Gesicht.
Er sah, wie ein Stück Knochen aufgeklappt wurde, wie im Schädel ein Fenster entstand, und er sah handballengroß darunter die schwach pulsierende Hirnhaut.
Und jetzt verstärkte sich der süßliche Geruch von Blut. Er war Arzt, und gewöhnlich störte ihn dieser Geruch nicht. Aber im Augenblick war er ziemlich fertig. Er mußte für Sekunden die Augen schließen und einen Schwächeanfall
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