Zum Glück Pauline - Roman
geht jeder normal strukturierte Gastgeber aus dem Zimmer. Mein Satz bedurfte keines weiteren Kommentars. Sylvie blieb jedoch in der Tür stehen. Sie schaute mich unverwandt an, sagte aber nichts, so dass ich mich nach einer Weile bemüßigt fühlte zu wiederholen: «Ich komm gleich in die Küche …»
Ohne auf meinen Vorschlag einzugehen, kam sie auf mich zu. Sie wirkte wie hypnotisiert, schien einem merkwürdigen Drang zu gehorchen. Sie sah mir tief in die Augen und ließ sich langsam auf dem Bett nieder. Nie zuvor hatte ich einensolchen Ausdruck in ihrem Gesicht gesehen. Nie. Er ließ keine Schlüsse zu, ihre Miene drückte weder Heiterkeit noch Besorgnis aus. Ihre Hand, die rechte, deutete eine Bewegung an. Sie strich bedächtig über das Laken, wirklich sehr bedächtig. Dann begann sie, meine Beine zu streicheln, wobei ich mir in diesem Punkt nicht ganz sicher bin. Ich brachte keinen Ton heraus. Ich verstand nicht, was sie da machte. Oder doch, ich verstand, aber ich wollte nicht wahrhaben, dass ich verstand. Dabei konnte kein Zweifel mehr bestehen, denn ihre Hand befand sich schon auf meinem Oberschenkel. Sie fuhr diesen Oberschenkel rauf und runter und näherte sich bedrohlich meinem Geschlecht. Ich wich zurück, versuchte zu fliehen, doch sie erhöhte den Druck.
Dann wollte sie mich küssen, mit gespitzten Lippen, so spitz, dass ich fürchtete, sie könnten gleich abbrechen. Trotz dieser Lippenstellung gelang es ihr, einige obszöne Laute zu artikulieren, die ich hier nicht wiederzugeben wage. Eine jahrelang unterdrückte nymphomanische Veranlagung brach sich Bahn, hätte man meinen können.
«Aber was machst du denn da?»
«Ich will dich. Ich begehre dich schon die ganze Zeit.»
«Bei dir piept’s wohl! Das geht doch nicht! Das können wir Édouard doch nicht antun!»
«Ach, scheiß auf Édouard! Mit dem läuft schon seit Monaten nichts mehr!»
Ich wusste nicht, wie ich mich ihrer Angriffe erwehren sollte. Sie hatte mich in den hintersten Winkel des Bettesgedrängt. Verzweifelt warf ich den Kopf hin und her. Dass die Begierde nicht auf Gegenseitigkeit beruhte, schien sie nicht weiter zu stören. Und es ging ja nicht nur um Begierde. Da war auch noch die Moral. Édouard war mein Freund, und ich fand, dass man mit den Frauen von Freunden nicht ins Bett stieg. Genau so ist Freundschaft übrigens definiert: Ein Freund ist jemand, von dessen Frau du die Finger lässt. Also das kam wirklich nicht infrage. Da wir dies geklärt hätten, können wir nun dazu kommen, dass Édouard mich angelogen hatte. Die großen Reden, die er geschwungen hatte, wie beschwingt sein Sexualleben doch sei, dröhnten mir noch gut im Ohr. Er und seine Frau würden im sexuellen Jungbrunnen baden. Dafür hatte ich ihn bewundert, und danach hatte ich mich schuldig gefühlt, weil meine Frau und ich nicht im gleichen Wahnsinnszustand des unverminderten Verlangens nacheinander schwebten. Ich hatte mich nicht schuldig gefühlt, weil ich auch andere Frauen begehrte, sondern weil ich die meine darum weniger begehrte. Es war doch nichts tragischer, als gemeinsam durchs Leben zu gehen, die schönen Dinge des Lebens (die Kinder, Erinnerungen, Zärtlichkeit) zu teilen und dabei allmählich die Sinnlichkeit abzustreifen. Das Leben war einfach schlecht angelegt, Édouards Erzählungen hatten mir meinen erotischen Niedergang vor Augen geführt.
Und jetzt erfuhr ich, dass nichts von dem, was er mir erzählt hatte, stimmte. Ich war mir nämlich sicher, dass Sylvie die Wahrheit sagte: Der Körper lügt nicht. Und einem Freundweiszumachen, das eigene Leben sei viel aufregender als das des Freundes, war eines Freundes unwürdig. Das heißt, mir war schon klar, dass Édouard sich vor allen Dingen selbst in die Tasche log. Die Vorstellung, was für ein packendes Leben man führen könnte, ist immer äußerst wohltuend. Während ich derlei Überlegungen anstellte, versuchte Sylvie weiter, meinen Widerstand zu brechen.
«Hör auf, ich will nicht …», rief ich immer wieder.
«Oh, das hat sich aber schon mal ganz anders angehört! Davon hast du doch immer geträumt!»
«Das war vor zwanzig Jahren …»
«Na und, jetzt gebe ich mich dir hin … endlich …»
«…»
Es ließ sich nicht verleugnen: Sylvie hatte meine sexuellen Fantasien genährt, als wir uns kennengelernt hatten. Für einen erst kürzlich der Pubertät entronnenen jungen Mann wie mich war sie eine Traumfrau, da sie schon ein bisschen älter und irgendwie freier war. Doch wie gesagt
Weitere Kostenlose Bücher