Zum Glück verführt: Roman (German Edition)
Einstellungen. Gil, der im Schneidersitz auf dem Boden hockte, verfolgte das Interview über Kopfhörer. Les stand hinter Jeff und tippte sich mit dem Daumennagel gegen die
Zähne, während er konzentriert zuhörte. Die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine lässig übereinandergeschlagen, lehnte Lyon an einer Zypresse und versah die anderen mit vernichtenden Blicken.
An welchem Punkt Andy die Kontrolle über die Gesprächsführung verlor, hätte sie später nicht zu sagen vermocht. Jedenfalls stellte sie zunächst Fragen über den Krieg, die sie so allgemein hielt, wie der General es sich erbeten hatte. Irgendwann ertappte sie sich dabei, dass sie über eine Geschichte schmunzelte, die er über einen französischen Bauern und dessen Frau zum Besten gab. Die beiden hätten allen Ernstes ein ganzes Regiment amerikanischer Soldaten in ihrem Heuschober versteckt gehalten, so berichtete er.
Ab da gab es für General Michael Ratliff kein Halten mehr. Er schilderte lebhaft, würzte seine Kriegserinnerungen mit Ausführungen wie »Ike sagte dann das und das« und »George entschied sich so oder so«. Tony schreckte aus seinem Nickerchen hoch und lauschte fasziniert. Schon nach kurzer Zeit amüsierten sich alle köstlich. Gil machte sich nicht einmal mehr die Mühe, das Gelächter auszublenden. Selbst Lyon grinste über die eine oder andere Anekdote seines Vaters.
Michael Ratliff war in seinem Element und schien sich sichtlich wohl zu fühlen. Als Warren bezeichnend auf seine Armbanduhr tippte, griff Andy charmant in den Redefluss des Generals ein, bevor dieser
zu einer weiteren Story ausholte. Der Zeitrahmen für das Interview war ausgereizt.
»Oh, General Ratliff, das war wundervoll«, lobte Andy begeistert. Sie nahm ihr Mikro ab und gab es Gil zurück. Dann beugte sie sich über den alten Gentleman, löste das Mikrofon von seinem Jackenaufschlag und umarmte ihn überschwänglich.
»Ich glaube, meine Erinnerungen sind mit mir durchgegangen. Verzeihen Sie vielmals.«
»Sie waren großartig.«
»Was meinst du dazu, Les?«, brüllte Jeff begeistert.
»Es war okay.«
»Schätze, wir brauchen den Dreh mit den Fragen nicht gesondert zu wiederholen«, konstatierte Jeff.
»Das überlasse ich voll und ganz deinem Ermessen«, meinte Les gnädig.
»Dad, alles in Ordnung mit dir?« Lyon war hinter Andy getreten.
»Ich hab seit Jahren nicht mehr so viel Spaß gehabt, mein Junge. Einige dieser Geschichten hatte ich völlig verdrängt. Sie kamen mir erst wieder beim Erzählen. Stell dir das bloß vor.« Er schmunzelte gedankenverloren. Unvermittelt nahmen seinen Augen einen verklärten Ausdruck an, und er umklammerte Lyons Hände. Den Blick auf seinen Sohn geheftet, sagte er milde: »Es gab nicht nur Negatives, Lyon. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, kann ich das guten Gewissens sagen.«
»Wir kehren besser zum Haus zurück«, schlug Lyon vor. Er startete den Motor des Rollstuhls und schlenderte daneben her, eine Hand fürsorglich auf die eingesunkene Schulter seines Vaters gelegt.
»Wie hat er das wohl gemeint?«, wollte Les von Andy wissen. Die beiden folgten den anderen mit einigem Abstand.
»Was gemeint?«
»Meine Güte, stell dich nicht dümmer, als die Polizei erlaubt, Andy. Was hat er mit ›Es gab nicht nur Negatives‹ gemeint?«
»Na, das, was er gesagt hat. Er hat lustige Begebenheiten erzählt. Was bedeutet, dass seine Kriegserinnerungen nicht generell schockierend waren.«
»Da steckt mehr dahinter, hundertprozentig. Und das weißt du auch«, zischte er gereizt.
»Ich weiß nur, dass du zu deinem Glück bluttriefende, abgründige Storys brauchst. Anders als ich. Ich bin mit mir zufrieden, die Interviews sind nämlich super. Wenn du auf irgendwelche infamen Enthüllungen aus bist, die den einwandfreien Ruf eines alten Mannes beschädigen, dann muss ich dich leider enttäuschen. Diesmal hast du Pech auf der ganzen Linie.«
Ärgerlich beschleunigte sie ihre Schritte und erreichte den Patio zeitgleich mit dem im Rollstuhl sitzenden General. Lyon hielt ihm die Tür auf, doch sein Vater winkte ab. »Einen Moment noch, Lyon. Ich möchte kurz mit Andy sprechen. Vielleicht haben
wir vor ihrer Abreise sonst keine Gelegenheit mehr dazu.«
Sie sandte Lyon einen Blick zu, in dem die stumme Bitte um Erlaubnis lag, woraufhin er widerstrebend zurücktrat. Ein scharfer, verächtlicher Zug legte sich um seinen Mund. Es war einfach niederschmetternd! Trotzdem konnte er lange warten, dass sie ihm die Unterstellung
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