Zum Heiraten verfuehrt
Ruby war ausersehen gewesen, sie zu begleiten.
Ruby war damals erst siebzehn gewesen und so unerfahren, dass ihr die Kontrolle über die Situation vollständig entglitten war. Deshalb hatte sie bis zum heutigen Tag ihre Schuldgefühle, auch wenn ihre Schwestern ihr noch so überzeugend versicherten, dass ihre Rebellion damals ganz normal und nur verständlich gewesen war. Und natürlich hatte keine ihrer Schwestern ihr jemals den geringsten Vorwurf gemacht. Aber Ruby wusste, dass sie sich immer schuldig fühlen würde. Die Ereignisse waren in ihrer Erinnerung noch immer so frisch, als ob es gestern gewesen wäre.
Bevor sie zu ihrem Ausflug nach Manchester aufgebrochen waren, hatte Tracy vorgeschlagen, Ruby „mal so richtig durchzustylen“, wie sie sich ausgedrückt hatte. Doch vorher gab es zur Stärkung für beide erst einmal einen Wodka mit Orangensaft. Der Ruby, die noch nie Alkohol getrunken hatte, natürlich sofort zu Kopf stieg. Und das war der Grund dafür, dass sie sich nicht wehrte, als Tracy ihr einen ihrer hautengen Miniröcke und ein ebenso hautenges Top aufschwatzte, bevor sie ihr ein zünftiges Make-up verpasste.
Als Ruby am Ende in den Spiegel schaute, konnte sie nur ungläubig den Kopf schütteln. Das Mädchen mit dem wild zerzausten Haar, den schwarz umrandeten Augen und dem rosa glänzenden Schmollmund hatte praktisch keine Ähnlichkeit mehr mit der Ruby, die sie kannte.
Spätestens als sie hörte, wie Tracy den Türsteher des Clubs mit allen Tricks zu überreden versuchte, sie reinzulassen, dämmerte ihr, dass weder Tracys Eltern noch ihre Schwestern ihren Besuch hier billigen würden. Aber da war es bereits viel zu spät gewesen für einen Rückzieher, außerdem hätte sie vor Tracy ziemlich dumm dagestanden, und das wollte sie verständlicherweise nicht.
In dem Club, in dem es heiß und stickig war, wimmelte es von Mädchen, die alle dasselbe Ziel verfolgten wie Tracy. Ruby und Tracy stellten sich an die Bar, und es dauerte nicht lange, bis sie von einer kleinen Schar Jünglingen umlagert waren, die jedoch alle „nicht brauchbar“ waren, wie Tracy sich Ruby gegenüber ausdrückte. Ruby, die sich mehr als unwohl fühlte, begann sich zu fragen, was sie eigentlich hier machte. Als sie vorschlug, sich an einen Tisch im hinteren Teil des Raumes zu setzen, sagte Tracy mit einem ungeduldigen Kopfschütteln: „Blödsinn, da hinten sieht uns doch keiner.“
Sie bekamen Cocktails spendiert, und Ruby, durstig wegen der Hitze, die in dem Club herrschte, trank immer wieder von ihrem Glas. Obwohl es nicht allzu lange dauerte, bis ihr dämmerte, dass die Drinks möglicherweise doch nicht ganz so harmlos waren, wie sie schmeckten.
Irgendwann bekam Ruby Kopfschmerzen von der stickigen Luft. Plötzlich fühlte sie sich unsagbar fremd und allein, und der Alkohol verstärkte ihre Niedergeschlagenheit noch. Als sie dann auch noch daran denken musste, dass ihre Eltern tot waren, wurde sie von Trauer und Verzweiflung überrollt wie von einer Lawine.
Tracy, die ihr den Rücken zudrehte, flirtete schon seit einer ganzen Weile mit irgendeinem Typen, wobei sie Ruby absichtlich ausgeschlossen hatte.
Ruby sehnte sich schrecklich nach der Geborgenheit ihres früheren Zuhauses, nach der Gewissheit, dass da jemand war, auf den sie sich verlassen konnte, jemand, der sie umsorgte, beschützte und liebte, statt sich bloß dauernd mit ihr anzulegen wie ihre älteren Schwestern. In diesem Moment schweifte ihr Blick über die Bar und blieb an Sander hängen.
Er hatte etwas an sich, das ihn von allen anderen männlichen Umstehenden unterschied. Das lag wohl zuerst einmal an dem tollen Anzug und dem gepflegten dunklen Haar. Außerdem ging von ihm eine natürliche Autorität aus, der Ruby sich, verunsichert und unglücklich wie sie war, einfach nicht zu entziehen vermochte … Er wirkte auf sie wie eine Insel der Ruhe und der Geborgenheit in einem Meer von Traurigkeit und Verwirrung. Sie konnte einfach nicht aufhören, ihn anzuschauen. Und als er schließlich ebenfalls aufmerksam wurde und ihren Blick erwiderte, wurde ihr Mund so trocken vor Aufregung, dass sie ihre Lippen mit der Zunge befeuchten musste. Der Art, wie Sander diese Bewegung mit Blicken verfolgte, glaubte sie entnehmen zu können, dass er offenbar genauso interessiert war. Das weckte in Ruby das Gefühl, dass zwischen ihnen ein geheimes Band existierte. Und plötzlich meinte sie sich ganz sicher zu sein, dass es ihr vorbestimmt war, ihm zu begegnen, dass er
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