Zum Nachtisch wilde Früchte
gesenkt, als grübele er über große Probleme nach. Zwischen ihnen war nicht mehr viel zu sagen … es gab keine Erklärungen mehr, keine unverbindlichen Worte, keine freundschaftliche Bindung. Was sie zusammenhielt, war die Tat vom 21. Mai und der Drang, die Wahrheit zu erfahren oder die Wahrheit zu ersticken.
Seitlich von ihnen, hinter der herunterhängenden Sonnenblende einer Losbude, stand Jutta Boltenstern und beobachtete ihren Vater. Zuerst hatte sie zu ihm laufen wollen, aber dann erkannte sie an den merkwürdig hölzernen Bewegungen ihres Vaters und den in die Luft geworfenen Armen Schreiberts, daß sie Zeuge einer erbarmungslosen Abrechnung sein würde. Da verbarg sie sich hinter dem Zeltvorhang und verfolgte die unstete Wanderung ihres Vaters zwischen den Bierfässern. Zwei Wochen hatte sie ihn seit ihrem Weggang nach Emmerich nicht mehr gesehen, und er kam ihr erschreckend alt und verfallen vor.
»Soll ich dir ein Bier holen, Hermann?« fragte Boltenstern und blieb stehen. Im Zelt brauste Beifall auf. General v. Rendshoff hatte über das Recht auf die deutschen Ostgebiete gesprochen.
Schreibert schüttelte den Kopf. »Wann kann ich Toni sehen?«
»Ich will versuchen, ihn mit dem Bier mitzubringen. Außerdem wird mich Petra suchen. Sie weiß ja gar nicht, was los ist. Sie sitzt allein am Ehrentisch. Ich werde ihr ein paar Erklärungen geben und komme dann mit Toni zu dir zurück. Einverstanden?«
Schreibert nickte. Er nahm seinen Hut wieder ab. Jutta Boltenstern hielt den Atem an. Voll fiel das Sonnenlicht auf Schreiberts zerstörtes Gesicht. Da senkte sie den Blick und wandte sich ab. O Himmel, dachte sie. Das ist grauenhafter, als ich je gedacht habe. Wie muß sich solch ein Mensch fühlen, wenn er in einen Spiegel blickt?
Boltenstern ging zwei Meter an ihr vorbei um das Zelt herum. Er bemerkte sie nicht, und sie wartete, bis er einen kleinen Vorsprung hatte. Dann ging sie ihm nach und stellte erstaunt fest, daß er nicht zum Zelteingang ging, sondern hinüber zu einer Gruppe Wagen eilte, die mit Sonderausweisen an den Frontscheiben auf einem kleinen Parkplatz abgestellt waren.
Sie sah, wie ihr Vater einen Wagen aufschloß – es mußte ein Wagen Petra Erlangers sein –, wie er sich vorbeugte und aus dem Handschuhkasten etwas herausholte. Hinter einem Kombiwagen versteckte sie sich und beobachtete Boltenstern durch die Autoscheiben. Er öffnete ein Briefkuvert, holte etwas silbern Glitzerndes heraus und ließ es in die Rocktasche gleiten. Und in diesem Augenblick wußte Jutta, was hier vor sich ging.
Zwei Streifen Stanniol. Dazwischen ein feuchtes Streifchen Löschpapier. Geruchlos, geschmacklos, farblos … der Schlüssel für die Reise in eine violette Hölle. 100 Mikrogramm LSD.
Jutta umklammerte den Griff der Tür vor sich und starrte durch die Autoscheibe auf ihren Vater. Er schloß Petra Erlangers Wagen wieder ab, ging ein wenig in die Knie, betrachtete sich in der spiegelnden Seitenscheibe, strich sich über die melierten Haare und die weißen Schläfen, so, als beträte er gleich einen Ballsaal und müsse durch seine Erscheinung eine galante Wirkung erzielen, klopfte seine Tasche mit einer lässigen Bewegung ab, die Tasche, in der die Stanniolplättchen staken, dann richtete sich Boltenstern wieder auf und ging in aufrechter Haltung und mit festen Schritten zum Zelt zurück.
Jutta wartete. Einmal schrak sie zusammen … aus dem Zelt donnerte aus dreitausend Kehlen »Hurra! Hurra! Hurra!« General v. Rendshoff hatte der Kesselschlacht bei Wjasma und Brjansk gedacht. Hinter ihr ratterten die Wagen der großen Achterbahn ins Tal und die Steigungen wieder hinauf. Quietschen flatterte zu ihr herüber. Aus irgendeinem Lautsprecher schrie die Stimme Elvis Presleys im Zweikampf mit Heidi Brühl, die ›Wir wollen niemals auseinandergehen‹ beteuerte. Der Kirmesplatz war erwacht, die ersten Betrunkenen schwankten aus dem Bierzelt und versammelten sich vor den Schießbuden.
»Heini! Wetten? Jeder Schuß ein Treffer!« schrie jemand.
Aus dem Zelt dröhnte jetzt Marschmusik. General v. Rendshoffs Ansprache war beendet. Der Marsch des alten Derfflinger krönte die Feierstunde. Vom Badenweiler-Marsch hatte man in der Festleitung abgesehen, um niemanden zu provozieren.
Jutta wartete hinter dem Kombiwagen, bis ihr Vater wieder aus dem Zelt kam. Es dauerte etwas länger als erwartet. Boltenstern hatte sich erst noch zur Tribüne vorgekämpft und Petra Erlanger um Geduld gebeten.
»Schreibert ist
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