Zum Wilden Einhorn
Höllenhunde, die ihn gehalten hatten, hinderten ihn nicht daran.
Er blieb erst vor der hölzernen Schranke stehen, die den Beklagten von dem hohen Richterstuhl trennte, auf dem der Prinz saß. »Ich habe nichts Böses getan, Eure Hoheit.« Stulwig wandte sich an Molin Fackelhalter. »Eure Exzellenz, bitte sagt Seiner Hoheit, daß Eure Männer mich auf den Knien vor ...« Er zögerte, eigentlich hatte er »Idol« sagen wollen, dann dachte er an »Statue«, kam jedoch auch davon ab. Nach einem langen Augenblick erst beendete er verlegen seinen Satz: »... vor Vashanka vorfanden, den ich um seine Hilfe anflehte.«
»Ja, aber nach unserer Religion ist es für einen Anhänger Ils' absolut verboten, zu einem Sohn Savankalas zu beten.«
Da er dem nichts entgegnen konnte, wartete Stulwig hilflos ab.
Es war schon ein Jahr her, seit er den jugendlichen Statthalter, der jetzt über ihn richten würde, das letzte Mal gesehen hatte. Wie Stulwig ihn so ansah, fand er, daß er sich in diesem Jahr verändert hatte - zu seinen Gunsten, wie ihm schien.
Wie alle wußten, war der Prinz nun zwanzig Jahre alt, und erst ein Jahr seines Lebens war er der Stellvertreter seines älteren Halbbruders, des Kaisers, in Freistatt. Doch dieses eine Jahr hatte ihm eine gewisse Reife beschert. Sein Gesicht war immer noch jungenhaft, aber das Jahr der Macht hatte ihm sichtliches Selbstvertrauen eingeflößt.
Im Moment jedoch wirkte der junge Statthalter unentschlossen. »Nun - es scheint mir kein schweres Vergehen zu sein. Ich bin der Meinung, man sollte jene, die zu unserem Glauben übertreten wollen, eher ermutigen, denn bestrafen.« Er zögerte und bewahrte die Form. »Welche Strafe würdet Ihr vorschlagen?« wandte er sich höflich an den Hohenpriester der rankanischen Götter.
Fackelhalter brauchte eine erstaunlich lange Zeit, ehe er antwortete: »Vielleicht sollten wir den Beklagten erst fragen, worum er Vashanka anflehte, und danach urteilen.«
»Eine sehr gute Idee!« lobte der Prinz.
Noch einmal erzählte Stulwig seine Geschichte und endete in demütigem Ton: »Deshalb eilte ich, sobald mir klar geworden war, daß die großen Götter höchstpersönlich über etwas uneinig waren, zu Vashanka, um ihn zu fragen, was er von mir verlangte und welche Wiedergutmachung er von mir forderte, für welche Sünde auch immer, die ich unbewußt begangen haben mochte.«
Er war überrascht, daß der Prinz nun die Stirn gerunzelt hatte und sich zu einem der Männer an einem Tisch seitlich unterhalb von ihm beugte und mit leiser Stimme etwas zu ihm sagte, woraufhin er eine ebenso leise Antwort erhielt.
Der jüngste Herrscher, den Freistatt je hatte, richtete den Blick nunmehr auf Stulwig. »Es gibt verschiedene Leute in dieser Gegend«, sagte er mit beunruhigend strenger Stimme, »über deren Aufenthalt wir uns stets auf dem laufenden halten. Aus verschiedenen Gründen gehört Cappen Varra zu ihnen. Und deshalb weiß ich mit Sicherheit, Herr Heiler, daß Cappen vor einem halben Mond die Stadt verlassen hat und erst in frühestens zwei Monden zurückerwartet wird.«
»A-a-a-ber ...«, stammelte Stulwig und fuhr mit schriller Stimme fort. »Dieser Mann im Traum der Seherin! Schulterlanges schwarzes Haar! Ils in Menschengestalt!«
Schweigen setzte ein in diesem großen Saal, in dem ein junger rankanischer Prinz Gericht hielt. Weitere Angeklagte warteten im hinteren Teil, bewacht von Sklaven, und die beiden Höllenhunde, die Stulwig in den Saal gebracht hatten, waren die Aufseher.
Es würde also Zeugen dieses Urteils, geben, und sein Für und Wider würde in der Öffentlichkeit besprochen werden, sobald es bekannt wurde.
Stulwig mußte sich beherrschen, Seine Hoheit nicht an eine gewisse Nacht vor dreizehn Monaten zu erinnern. In der tiefen Finsternis der ersten Morgenstunden hatte man ihn aus dem Bett geholt und zum Palast gebracht.
Er war geradewegs ins Schlafgemach des jungen Prinzen geführt worden, wo er einen völlig verstörten jungen Mann vorgefunden hatte, der in der Dunkelheit mit außergewöhnlich schnellem Herzschlag aufgewacht war - doppelt so schnell wie normal, was Stulwig beim Pulsmessen feststellte. Der anwesende Hofheiler war nicht imstande gewesen, das heftig schlagende Herz zu beruhigen. Stulwig hatte sich den Mut genommen, die üblichen Fragen zu stellen, und herausgefunden, daß Seine Hoheit am Abend dem Wein übermäßig zugesprochen hatte.
Dadurch war ein kleiner Herzfehler offenbar geworden. Dem Körper mußte Zeit gegeben
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