Zungenkuesse mit Hyaenen
wir. Mein Kopf wurde langsam klarer. Ich dachte nach. »Woher kennst du eigentlich Müller?«
»Felicitas hat ihn mir vorgestellt, ist schon ewig her.«
»Wie ist er?«
»Das weiß keiner so genau. Er verspricht das Blaue vom Himmel. Jeder, der ihm einen Gefallen tut, ist ein potentieller Erbe. Er haut gern auf den Putz. Er gibt den Bösewicht. Schwer zu sagen, wie er wirklich ist. Früher war er ein Superbrain, Riesenbildung, exzellentes Gedächtnis. Aber seit er auf den Kopf gefallen ist, vergisst und verwechselt er alles. Meist hat er den Teuben dabei, der steckt ihm dann Tabletten zu oder gibt ihm Spritzen. Felicitas hat nach dem Sturz eine Weile bei ihm gewohnt, das muss schauderhaft gewesen sein, er war eingegipst, sie die Pflegerin. Die haben sich fast die Köppe eingehaun. Ach so ...«, David stand auf, »ich hab damals hier nach dem Rechten geschaut, hab noch ihren Wohnungsschlüssel.«
Aha. »Behalt ihn«, sagte ich. »Du warst auf der Geburtstagsparty der Müllerin, als es passiert ist?«
David nickte. »Es war so eine Heten-Orgie. Ecstasy und Bunga Bunga. Felicitas hatte mich mitgeschleppt. Zum Glück war einer bi, dieser Cellist, sonst hätte ich mich zu Tode gelangweilt.«
Ich nickte wissend, ohne die geringste Idee, wovon David sprach. »Was genau ist da passiert?«
»Ach, ich weiß nicht mehr. Ich erinnere mich an gar nichts mehr. Das hab ich auch der Polizei gesagt.« Er rollte sich hoch und warf einen Blick auf die Uhr. »Schon zwei«, rief er.
Ertappt richtete ich mich auf. »Schon zwei? Dann muss ich gehen.«
Als ich in meinem Bett lag, starrte mich die Rizzer Nacht durchs Fenster mit geilen Kajalaugen an.
SCHÄTZCHEN
Ein Satz, den Müller ihr zugeflüstert hatte, bevor sie die erste Nacht miteinander verbrachten, hatte sie berührt: »Ich hätte gern gewartet, bis wir uns besser kennen, ehe ich dir sage, dass ich nicht laufen kann.«
In den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft hatte die Rote Müllerin seine gelähmte Körperhälfte erkundet. Er hatte das geduldig hingenommen. Nur einmal hatte er sich hochgestemmt, prüfend hinabgeschaut und gesagt, sie brauche »die Dinger« – er neigte dazu, seine nutzlosen Gliedmaßen zu beschimpfen – nicht zu streicheln, das »bringe nix«. Dass Körperteile, obwohl sie vorhanden sind, so stiefmütterlich behandelt wurden, konnte sie schwer akzeptieren. Man sprach doch auch mit Komapatienten. Man sprach sogar mit Pflanzen.
In unbeobachteten Momenten kitzelte sie seine Fußsohlen, die ihn seit dreißig Jahren nicht mehr trugen, und zuckte vor Schreck,als sie zuckten. Er hatte Reflexe. Unten zuckten die Füße, oben merkte er nichts. Er hatte die Hände eines Möbelpackers, sonnenverbrannt, behaart, muskulös, und die Beine eines Messdieners: hell, dünn, kraftlos. Seine weichen Füße würden nie die Erde berühren.
Wider alle Vernunft stieg der Wunsch in ihr auf, ihn zu heilen, ihn zum Gehen zu bringen. Füße, die zucken, wer weiß, vielleicht können sie ja auch die Zehen bewegen. Muskeln, die sich zurückgebildet haben, wer weiß, vielleicht kann man die ja trainieren. Wochenlang recherchierte sie im Internet, auf welchem Stand die Technik war, wie total seine Lähmung war, ob man irgendwas tun konnte.
»Schätzchen, man kann nichts tun«, sagte Müller freundlich, aber abschließend.
»Nenn mich nicht Schätzchen!«
»Warum wollt ihr bloß alle nicht Schätzchen genannt werden?«
Man konnte wirklich nichts tun. Sie hatte Bücher gekauft, Doktorarbeiten runtergeladen, Filme gesehen. Eines Abends schnitt sich Müller beim Fernsehen die Zehennägel und verletzte seinen Zeh, weil er nicht hinsah. Das Bild hatte sie schockiert. Der Mann sitzt in seiner Blutlache und schaut begeistert Fußball.
Später hatte sie feststellen müssen, dass der Satz, der sie so berührt hatte – »Ich hätte gern gewartet, bis wir uns besser kennen, ehe ich dir sage, dass ich nicht laufen kann« –, Teil von Müllers Standardrepertoire war.
»Mein Gott«, sagt er, »was meinst du, was wir alles machen, um euch ins Bett zu kriegen!«
MANN IM OHR
Nachmittags in Klarhabbischs Café, beim Studieren des Mittagskuriers, war mir das Kinoprogramm der Rizzer Kinemathek ins Auge gestochen. Am Abend würde dort »Das wilde Schaf« gezeigt werden,neben »Citizen Kane« der zweite richtungsweisende Film in meinem Leben, der letzte, den ich gemeinsam mit Mutter gesehen hatte.
Der Held ist ein Bankbeamter, gespielt von Trintignant. Er ist, wie ich, jemand, der macht, was
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