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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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nicht weiß, welchen Platz Veronika einnehmen soll. Er hat sie fast ausgeschlossen. Sie tut ihm leid, aber er kann ihr nicht helfen.
    »Vielleicht diesmal«, flüstert Veronika. Sie steht nicht auf, um sich zu waschen. Sie will, daß der Samen, der in sie eingedrungen ist, in ihrem Inneren liegenbleibt, warm und fruchtbar, damit ein Kind entsteht. Er weiß, was sie sich von ihm wünscht. Alle warten darauf, daß sie ein Kind bekommen. Vielleicht war es ja diesmal, vielleicht heute abend, vielleicht wird es morgen sein. Emil wird Veronika nicht enttäuschen, auch wenn der Gedanke ihn entsetzt. Seit einigen Wochen haben sie jede Art von Empfängnisverhütungeingestellt, Veronika will es so, und Emil tut, als ob er einverstanden sei, was bleibt ihm anderes übrig? Er denkt an die Briefe, die er Sebastian schreiben wird, in diesem Zimmer, an diesem kleinen Schreibtisch, mit Blick aufs Meer, während Veronika in der Sonne am Strand liegen und hoffen wird, diesmal habe sie empfangen, was die anderen von ihnen erwarten. Mit geschlossenen Augen sieht er sich am Tisch sitzen. Er wird Sebastian schreiben, Sebastian wird ihm schreiben. Wenige Worte werden genügen. Viele Worte werden aus seiner Feder fließen, er wird sie nicht zurückhalten. Worte sind gar nicht nötig. Es genügt ein leeres Blatt Papier, eine Linie, ein Punkt. Er wird ihm nicht schreiben, wie die Tage vergehen, sondern daß sie nicht vergehen. Groß geschrieben, unterstrichen. Daß das Warten unerträglich ist wie die Sonne, die auf ihn herunterbrennt. Weißes Papier sagt so viel wie beschriebenes.
    Emil wird einen Weg finden, Sebastians Briefe hinter Veronikas Rücken in Empfang zu nehmen, die nun an seiner Seite eingeschlafen ist, mit übereinandergeschlagenen, zusammengepreßten Schenkeln. Sie erwartet keine Post. Sie kann sich nicht vorstellen, daß er welche erwartet. Er wird dem Portier etwas Geld zustecken und um Diskretion bitten. Es ist nur eine Frage der Abmachung und des Trinkgelds.
    »Was ist? Worüber lachst du?«
    Veronika ist aufgewacht. Er überlegt und antwortet schließlich: »Über unser Kind.«
    Es ist Verrat, denkt er, ich verrate unser ungeborenes Kind, ich benutze es als Ausrede, um glaubwürdig zu erscheinen, ich gebe vor, es in meine Überlegungen mit einzubeziehen, in Wirklichkeit dient es mir nur als Deckmantel. Es darf nicht geboren werden. Und er sieht, wie Veronika unwillkürlich mit beiden Händen zärtlich über ihrenBauch fährt, als berührte sie nicht ihr Fleisch, sondern das ihres Kindes. Er gibt ihr die Hand, sie liegen da, beide blicken zur Decke, wo sich winzige Fliegen erbittert verfolgen. Sie denken beide an ihr ungeborenes Kind, auf ganz unterschiedliche Weise. Wer weiß, wie es entsteht und wann und warum.

    Bereits am nächsten Tag erhielt er den ersten Brief. Er war vier Tage zuvor in der Schweiz abgestempelt worden. Sebastian mußte ihn noch vor Emils Abreise abgeschickt haben. Noch in der Hotelhalle riß er den Umschlag auf. Mehrere Seiten, eng beschrieben. Fieberhaft überflog er das Geschriebene. Da und dort, an diesem und jenem Wort blieb sein Blick hängen, ohne daß die Bezüge auf Anhieb klar wurden. Leuchtend aber strahlte ihm die Kerbe, die am Ende des Briefs in Blockschrift eingemeißelt war, entgegen: In Liebe Seb .
    Seb? Seb. Er stopfte den Umschlag in seine Hosentasche, er würde ihn später wieder glätten. Veronika wartete im Frühstücksraum. Er würde irgendwann an diesem Tag Zeit und Muße finden, den Brief aufmerksam und in aller Ruhe zu lesen, wenn er allein war. Der Eifer, mit dem er den Umschlag geöffnet hatte, war dem unverfroren blickenden kleinen Portier hinter dem Empfang nicht entgangen. Er wußte Bescheid, wenngleich er annehmen mußte, der Brief stamme von einer Frau. Sein Schweigen hatte ihn nicht viel gekostet. Der Portier – François, Frédéric? – hatte den Geldschein mit einem schiefen Lächeln entgegengenommen und versichert, er habe immer Dienst, wenn die Post ankomme, jeden Morgen ab sieben. »Va, comptez sur moi.« Er senkte die Stimme, als beginge er heimlich Heldentaten. Es fehlte noch, daß er ihn duzte.
    Am übernächsten Tag trafen zwei Briefe gleichzeitig ein. Der Portier grinste noch etwas ungenierter als bei der erstenÜbergabe, enthielt sich aber eines Kommentars. Emil drückte ihm Geld in die Hand und entfernte sich. Auf der Vorderseite sein Name, der des Hotels und die Adresse, auf der Rückseite: S. Enz und seine Adresse.
    Emil entfernte sich und ließ den

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