Zur Leidenschaft verfuehrt
hatte, sich falschen Hoffnungen hinzugeben. Aber sie war verrückt nach ihm gewesen, deshalb hatte sie sich nicht für die Zukunft interessiert. Und sie hatte sich nicht die Zeit genommen, in sich hineinzuhorchen, sonst wäre ihr nicht entgangen, wie es in ihr aussah. Zu diesem Zeitpunkt war ihr noch nicht klar gewesen, dass sie sich hoffnungslos in ihn verliebt hatte. Damals nicht, aber heute.
Raphael konnte nichts dafür. Nur sie war schuld, sonst niemand. Aber das machte die Sache nicht leichter. Sie hatte versucht, ihrem Schmerz zu entkommen, indem sie jede freie Minute arbeitete. Sie war morgens die Erste, die den Garten betrat, und abends diejenige, die das schwere Tor hinter sich abschloss. Nach ihrer Rückkehr in den Palazzo las sie bis spät in die Nacht Berichte. Trotzdem gelang es ihr nicht, Raphael aus ihren Gedanken zu verbannen. Er begleitete sie durch den Tag und raubte ihr nachts den Schlaf. Und sie wusste, dass sich daran nie mehr etwas ändern würde.
Charley ließ ihre Blicke durch das hübsche, feminin eingerichtete Wohnzimmer schweifen. Jedes Mal, wenn sie sich Raphaels Mutter hier vorstellte, vielleicht Briefe schreibend an demselben Schreibtisch sitzend, an dem sie selbst jetzt arbeitete, erstand vor ihrem geistigen Auge noch ein anderes Bild: Sie sah Raphael als kleinen Jungen vor sich. Bei dem Gedanken wurde ihr das Herz schwer, und sie empfand eine tiefe Sehnsucht. In solchen Momenten konnte sie gut verstehen, warum sich eine Frau von dem Mann, den sie liebte, ein Kind wünschte. Ein Kind als Erinnerung an das, was sie beide geteilt hatten, ein Geschenk, das sie lieben und an dem sie ihre Freude haben konnte.
Aber so ein Geschenk konnte es für sie, Charley, nicht geben. Ihr allzu kurzer Aufenthalt im Paradies hatte sein unvermeidliches Ende gefunden, und eine Rückkehr dorthin gab es nicht. Raphael hatte das Tor zugeschlagen und den Schlüssel weggeworfen.
Charley schaute müde vor sich auf den Schreibtisch. Die Platte bog sich fast unter der Fülle von Unterlagen, die sie bearbeiten musste. Aber Anna war so stolz gewesen, ihr dieses Zimmer geben zu dürfen, dass Charley es nicht übers Herz gebracht hatte, sie zu enttäuschen. Auch wenn der Schreibtisch für ihre Zwecke eigentlich viel zu klein war.
Das Projekt kam gut voran, die Aufräumarbeiten waren bereits weiter fortgeschritten als geplant, obwohl Charley manchmal das Gefühl hatte, von einigen Leuten scheel angesehen zu werden, weil sie so viele Überstunden machte. Aber Arbeit war für sie der einzige Weg, ihren Kummer zu vergessen.
In ein paar Minuten würde sie in den Garten fahren, und heute Abend würde sie die Wochenpläne auf den neuesten Stand bringen, dann konnte sie alles in den Computer eingeben, um es zusammen mit ihrem wöchentlichen Bericht an Raphael zu schicken, so wie sie es seit drei Wochen machte. Bis jetzt hatte Raphael allerdings noch nichts von sich hören lassen. Charley wusste nicht einmal mit Sicherheit, ob er ihre Mails auch wirklich erhalten hatte, weil er den Eingang nie bestätigte. Scheute er sich vielleicht, Kontakt mit ihr aufzunehmen, weil er befürchtete, sie könne ihn um ein Wiedersehen bitten? Charley hoffte inständig, dass sie nie auf die Idee kommen möge, sich so zu demütigen und Raphael zu verärgern.
Es gab Momente, in denen sie sich schrecklich danach sehnte, sich von ihren Schwestern trösten zu lassen, andererseits aber war ihr allein der Gedanke, über ihren Schmerz zu sprechen, fast unerträglich.
„Alle Statuen sind jetzt entfernt. Die geringfügig beschädigten Objekte lasse ich in meinen Werkstätten in Florenz restaurieren, und was gar nicht mehr zu retten ist, wird fotografiert und ausgemessen, sodass originalgetreue Kopien angefertigt werden können.“
Charley, die sich Niccolos Statusbericht angehört hatte, nickte und schaute blinzelnd in die untergehende Sonne. Es war wieder ein langer Tag gewesen.
„Bekomme ich einen detaillierten Bericht, den ich an Raphael weiterleiten kann?“, fragte sie.
„Selbstverständlich. Wir fangen natürlich erst an, nachdem er uns grünes Licht gegeben hat. Aber wir sind bereit.“
Wieder nickte Charley. Sie hatte ebenfalls alles fotografisch festgehalten, gewissenhaft katalogisiert und jeden Fundort auf ihrem persönlichen Lageplan eingetragen. An ihrer Professionalität durfte es nicht den leisesten Zweifel geben. Sie war gut in ihrem Beruf, das wusste sie, auch wenn sie vielleicht für Raphael nicht gut genug im Bett
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