Zurück ans Meer
verborgen waren – sie hatte mich nicht
gebeten, ihn aufzuräumen. Sie ließ ihre Wut an Luke aus, wodurch er zwischen seine Frau und seine Mutter geriet. Am Ende meines
Aufenthaltes schlich ich mich aus dem Haus und fand es schrecklich, dass mein Besuch Probleme verursacht hatte, statt zu dem
erhofften Frieden zu führen.
»Eine echte Ausbildung dafür, Schwiegereltern beziehungsweise Mutter erwachsener Kinder zu sein, gibt es nicht, oder?«, frage
ich Robin.
»Wahrscheinlich nicht«, erwidert er, jetzt mehr darauf konzentriert, seine momentane Aufgabe zu erledigen. »Wir brauchen noch
eine weitere Verlängerungsschnur, dann können wir sie anmachen«, sagt er schließlich.
Ich laufe los und komme Minuten später zurück, bin tatsächlich aufgeregt. Die Jungs und ich haben das stets als Dads-Chevy-Chase-Moment 1 bezeichnet – wenn er die Schnur in die Steckdose steckt und voilà, das Wunder geschieht. Selbst ohne die Jungs ist die Vorfreude nicht anders. »Ta-ta-ta-ta!«,
ruft er mit einer Verbeugung, als das Licht angeht und ich auf die Straße laufe, um mir alles anzusehen.
Kurz darauf biegt meine Freundin Geri wie auf ein Stichwort hin in die Einfahrt. Sie hat mir immer geholfen, das Grünzeug
für das Kranzflechten zu sammeln, und dieses Jahr bildet da keine Ausnahme. Ob mit oder ohne Kinder, Weihnachten steht vor
der Tür.
»Hallo, Liebes«, sagt sie, öffnet die Autotür und bedeutet mir einzusteigen. Ich greife nach meinem Plastikbeutel, der Schere
und den Handschuhen, und wir fahren zu einer nahe gelegenen Wiese, wo Heidekraut, Hagebutten, Wacholderbeeren, Kiefern und
Gagelsträucher in Mengen wachsen. »Ich liebe dieses Kranzflechten – bringt mich in genau die richtige Stimmung.«
»Fast alle werden kommen. Ich bin immer überrascht, dass sie die Zeit dazu finden. Der Dezember ist so hektisch«, sage ich.
»Aber wir nehmen uns die Zeit. Allein schon in dein Haus zu kommen und all das Grün zu riechen, das wir geschnitten haben,
dazu die flackernden Kerzen, was Leckeres zu essen und ein Grog, ist pure Glückseligkeit. Das ist so ziemlich der beste Weihnachtsaugenblick
für mich.«
In alten Zeiten ging es in dieser Jahreszeit nicht um Familienzusammenkünfte, sondern darum, der Dunkelheit nachzugeben, darüber
nachzudenken, welche Samen man für die Zukunft einpflanzen wollte, und dann auszuruhen, dem Erdreich der Seele zu gestatten,
brachzuliegen, bis es Zeit war, erneut zu keimen. Schade, dass wir, statt nach den Bräuchen der Vorfahren zu leben, Weihnachten
in die geschäftigste und verrückteste Zeit des Jahres verwandelt haben.
»Wo seid ihr denn diesmal Weihnachten?«, will sie wissen. »Bei Luke oder bei Andy?«
»Bei keinem.«
»Wieso das denn?«, fragt sie verblüfft.
»Wegen meiner Mom. Sie ist auf dem Wege der Besserung, aber wir bringen es nicht über uns, sie Weihnachten allein zu lassen.«
»Das tut mir leid. Ist bestimmt schwer, so hin und her gerissen zu sein. Unser Bill zieht auch immer weiter fort, aber wir
haben ja Jennifer noch hier in Boston. Darüber sollte ich mich wohl glücklich schätzen.«
»Ist dir klar, wie sehr ich dich darum beneide, Kinder in Fahrentfernung zu haben, wo du einfach reinschneien und wieder gehen
kannst, ohne dich wirklich aufzudrängen?«, frage ich, während ich eine Plastiktüte mit leuchtend blauem Wacholder fülle. »Wenn
wir sie besuchen, ist das immer so eine große Sache, vor allem für meine Schwiegertöchter, die tagelang ihr Haus in Ordnung
bringen. Bis wir zur Tür hereinkommen, sind sie erschöpft.«
»Aber hast du das nicht auch getan? Sie sind eben bemüht, einen guten Eindruck zu machen.«
»Ich weiß, doch es bedeutet trotzdem, dass alles sehr förmlich abläuft. Das stört mich. Wann können wir endlich Freunde und
Familie sein, in der all diese Formalitäten keine Rolle mehr spielen?«
»Tja, du weißt doch, dass das chinesische Schriftzeichen für Konflikt zwei Frauen unter einem Dach zeigt«, sagt sie. »Das
hast du mir mal erzählt, und ich habe es nie vergessen.«
»Das trifft es genau, und doch hatte ich gehofft, inzwischen mit meinen Schwiegertöchtern darüber hinaus zu sein. Shelly ist
vierzig und Susannah achtunddreißig. Ich habe kein Interesse daran, ihr Leben zu beurteilen – was ich auch nie tun würde,
selbst wenn ich es könnte; ich möchte nur einen Platz darin haben.«
Wir befinden uns in einem Dickicht aus Hagebuttensträuchern, und ich schneide wie wild,
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