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Zurück ans Meer

Titel: Zurück ans Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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während Geri die Tüte aufhält, damit
     ich die Zweige hineinfallen lassen kann. »Auf jeden Fall bin ich allmählich zu der Erkenntnis gelangt, dass ein Besuch bei
     den Kindern in normalen Zeiten – nicht zu Weihnachten oder anderen großen Ereignissen – ein natürlicheres Erlebnis ist.«
    »In Zeiten mit weniger Anspannung bestimmt«, meint sie. »Weihnachten ist einfach so besetzt – alles läuft auf diesen einen
     großen Tag hinaus, an dem nichts schiefgehen darf.«
    »Stimmt, aber letzte Woche kamen mir im Lebensmittelladen die Tränen beim Anblick von Tierkeksen und Weihnachtsbonbons, die
     am Weihnachtsmorgen immer in den am Kamin aufgehängten Socken der Jungs steckten.«
    »Du musst die Königin der Tradition gewesen sein«, sagt Geri lachend. »Ich wette mit dir, dass wenigstens einer von ihnen
     Tierkekse in die Socken seiner Kinder stopft.«
    Geri hat recht: Ich habe gedanklich zu lange bei dem verweilt, was sich verändert hat, statt bei dem, was gleich geblieben
     ist. Kein Feiertag vergeht ohne Anrufe von beiden Jungs mit der Bitte um ein Familienrezept, Anleitungen für das Kochen von
     Ostereiern oder die Frage, welche Farbe die Kerzen auf dem Adventskranz haben sollten. Erst letzte Woche hat Andy mich gebeten,
     ihm die Vorlage für das Pfefferkuchenhaus zu schicken. Wir sind zwar nicht persönlich dabei, aber viele unserer Traditionen
     und Rituale werden weiter gepflegt. Es würde mich nicht überraschen, wenn sowohl Andy als auch Luke ihre eigenen Chevy-Chase-Momente
     mit den Lichterketten haben.
    Unsere Tüten sind voll – diese Pilgerfahrt an einem feuchten und kühlen Tag hat meine Depression vertrieben, und ich vermute,
     dass meine Sehnsucht mehr Energie verschlingt als das tatsächliche Zusammensein mit den Kindern. Ich habe genug Zeit mit Wünschen
     und Besorgnis verbracht, statt einfach nur dankbar zu sein für das, was sie haben – und was demzufolge wir haben.
    Ich gehe zu einer hohen Blautanne, die immer Hunderte von Tannenzapfen unter den Zweigen hat. Als ich mich bücke, um meinen
     Korb zu füllen, entdecke ich ein äußerst kunstvolles Spinnennetz, das sich über zahllose Äste breitet, bedeckt mit Tautropfen,
     die in der späten Nachmittagssonne glitzern. Diese akribischen Schöpfungen erfüllen mich nicht nur mit Ehrfurcht, sondern
     erinnern mich heute auch an die Komplexität von Familien – wie klein und überschaubar wireinst waren. Nun ist das Netz durch Partnerinnen, Kinder, Schwiegereltern und weitere Verwandte viel komplizierter geworden.
     Trotzdem ist dieses kleine Wunderwerk vor mir der Balsam, den ich brauche, um meine weihnachtliche Stimmung zu heben. Ich
     bin vielleicht nicht in der Lage, die Ereignisse im Leben meiner Kinder zu sehen oder darauf Einfluss zu nehmen, aber ich
     weiß, dass wir alle miteinander verbunden sind, in unterschiedliche Richtungen versponnen, und doch Teil desselben prachtvollen
     Netzes.

Ein weiter Weg
    Ende Dezember
    Was wir Anfang nennen, ist oft das Ende,
    und ein Ende machen heißt, etwas anzufangen.
    Wir beginnen am Ende.
     
    T.   S.   Eliot

In letzter Zeit habe ich zu viele unausgesprochene Enttäuschungen und Konflikte mit ins Bett genommen. Kein Wunder, dass ich
     von schlechten Träumen geplagt werde und oft mitten in der Nacht aufwache. Habe ich dann akzeptiert, dass es nichts nützt,
     mich schlaflos hin und her zu wälzen, stehe ich meist auf und hoffe, allein schon das Herumlaufen brächte mir Lösungen oder
     zumindest die Fähigkeit, meine Gedanken zu ordnen.
    Es ist kurz vor Neujahr, und ich muss nach wie vor mein Schiff auf Kurs bringen. Immer noch habe ich das Gefühl, von einer
     Krise in die andere zu driften. Meine Mutter hat sich noch nicht vollkommen berappelt. Obwohl ich nicht direkt mit ihrer Pflege
     zu tun habe, verlässt sie sich auf meine täglichen Besuche ebenso wie auf die übliche Mutter-Tochter-Kameradschaft. Pläne
     für ihre Zukunft zu machen, ist weiterhin die Hauptquelle der Spannungen zwischen Robin und mir. Ohne Antworten und mit vielen
     Fragen schleiche ich hinunter in die Küche und setze den Kessel auf, um mir eine Tasse Ingwer-Zitronen-Tee zu machen. Während
     ich warte, bis das Wasser kocht, entdecke ich durch ein Oberlicht den fast vollen Mond. Ist das der Grund für meine Ruhelosigkeit?
     Ich vermute, die hat genauso viel, wenn nicht sogar mehr mit dem vergehenden Jahr zu tun. Ich bin eine dieser seltsamen Seelen,
     die an Silvester weinen, wenn die Uhr zwölf schlägt,

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