Zurück ans Meer
Einsamkeit und Unabhängigkeit anerkennen kann, bin ich fähig zu sagen: »Dann ist es eben so.« Würde ich
mir wünschen, dass sie sich so festklammern wie die Entenmuscheln an der alten Nautilusmuschel, die ich gerade in meine Tragetasche
gesteckt habe? Hätte ich Muttersöhnchen großziehen wollen, die kein Interesse daran haben, flügge zu werden? Nein. Ich bin
stolz auf meine Jungen und ihr Verlangen danach, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Aber es ist nicht leicht gewesen, sie
wegzuschubsen, so wie eine Seehundmutter ihre Jungen wenige Tage nach der Geburt ins Wasser stupst, damit sie um ihr Leben
schwimmen. Als ich sie nach vorne drängte, hatte ich dabei nicht im Sinn, dass sie sich am anderen Ende des Landes niederlassen
sollten. Schließlich hätte »vorwärts« auch ein ganzes Stück näher sein können!
Eines weiß ich gewiss: Eine Mutter wird ihre Kinder immer lieben, auch wenn sie erwachsen sind. Doch die Nähe, die sie einst
mit ihnen teilte, vor allem mit Söhnen, verwandelt sich mit der Zeit in nichts weiter als eine schlichte »Hoffnung auf geliebte
Fremde«, wie die Jungianerin Florida Scott-Maxwell einst sagte. Eine gute Freundin meinte, das Großziehen eines Kindes sei
die einzige Beziehung, die, wenn man es richtig macht, mit Trennung endet. Wie recht sie hatte!
Relativ gesehen bleibt uns nur ein kleines Zeitfenster für das Bemuttern. Obwohl es uns in der Phase, in der wir vollkommenin Anspruch genommen werden, so vorkommt, als dauere sie ewig, bleiben uns dafür nur zehn bis fünfzehn Jahre. Dann, puff,
ist es vorbei. Ganz ähnlich wie der erste Schultag für ein Kind. Er bleibt in lebhafter Erinnerung, ist aber tatsächlich nur
ein flüchtiger Augenblick. Genau wie viele große Ereignisse im Leben – monumental, jedoch nur von kurzer Dauer. Auch hier
liegt die Antwort wieder darin, das zu erkennen, was sich überlebt hat. Das im Gedächtnis zu behalten, hilft mir, die ständige
Umgestaltung der Familie zu akzeptieren, genau wie ich die Umgestaltung des Strandes vor mir beobachte. Es ist mein Problem,
nicht ihres. Zeit, auf die andere Seite überzuwechseln.
Den Abstand überbrücken
Januar
Der beste Ausweg führt immer mittendurch.
Robert Frost
Mit dem neu entdeckten Gefühl einer heimlichen Heldin wage ich es einmal mehr, meiner eigenen Rettung entgegenzugehen. Den
getreuen Wanderstock in der Hand, bleibe ich am Rand des Meeres und halte den Blick auf den glatten weißen Sandstreifen vor
mir gerichtet, fasziniert von dem, was die Natur geschaffen hat, gespannt, etwas zu überqueren, was vorher zu Fuß unerreichbar
war. Wellen schwappen hoch, ihr Schaum kriecht über den Rand der Landbrücke. Obwohl sich der Himmel verdunkelt hat und nichts
Gutes verheißt, bleibt mir keine andere Wahl, als weiterzugehen über die schmale Landzunge aus weißem Sand, die eine Wasserfläche
von der anderen trennt.
Als ich zur Landbrücke komme, entdecke ich etwas Merkwürdiges – zwei frische Fußspuren im harten Sand. Wer könnte an einem
so unwirtlichen Tag hier draußen sein? Bei näherem Hinschauen erweist sich die eine Spur als deutlich größer und muss von
jemandem mit ausholendem Schritt stammen, während die andere von kleineren Füßen hinterlassen wurde, jeweils zwei Schritte,
wo der andere nur einen macht. Man kann sich leicht vorstellen, dass sie zu einem Mann und einer Frau gehören, die zusammen
einen Spaziergang machen. Eine Zeit lang folge ich den Fußspuren mit dem angenehmen Gefühl, Gesellschaft zu haben, doch dann
biegen die kleineren Spuren plötzlich zu den Dünen ab, während die größeren weiter der Landbrücke folgen.
Da mich gerade nichts anderes beschäftigt, mache ich mir Gedanken über dieses fiktive Paar, das aus irgendeinem Grund beschlossen
hat, in dieser gottverlassenen Gegendnicht zusammenzubleiben. Haben sie sich gestritten? Oder ist es nur ein Paar mittleren Alters, das nicht mehr im Gleichschritt
oder Hand in Hand herumlaufen muss – ähnlich wie Robin und ich –, das unterschiedliche Zielvorstellungen hat? Interessanter noch, warum verstört es mich, dass sich ihre Fußspuren getrennt
haben?
Das ist eine Frage, mit der ich mich in den ersten Jahren von Robins Ruhestand viel herumgeschlagen habe. Da die Kinder groß
sind und sich unsere beruflichen Laufbahnen in vollkommen unterschiedlichen Stadien befinden, weichen unsere Richtungen voneinander
ab, wie auch die Geschwindigkeit, mit der wir
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