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Zurück ans Meer

Titel: Zurück ans Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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so viel Zeit und Aufmerksamkeit widmen würde wie meiner Arbeit, würde ich wahrscheinlich
     ähnliche Belohnungen ernten. Detail, Rücksichtnahme, Präsenz – das sind die Zutaten, welche die Art von Nähe schaffen, nach
     der wir uns alle sehnen. Wie Joan Erikson sagte: »Sich ›beziehen‹ ist ein Verb. Es bedarf des Handelns und Denkens, um eine
     Reaktion zu erhalten.« Wie viel Handeln und Denken habe ich während der letzten paar Jahre wirklich auf meine Beziehung verwendet?
     Ich fürchte, ich habe es mir im Vertrauten bequem gemacht, habe angenommen, die Dauerhaftigkeit meiner Ehe erhalte sich selbst,
     und einfach nicht oft genug die Hand nach meinem Mann ausgestreckt. Mich dieser Wahrheit hier draußen zu stellen, wo ich hilflos
     bin, die Situation zu verbessern, verstärkt mein Unbehagen,das noch durch den Anblick zweier schwarzer Wolkenbänder erhöht wird, wie ich sie noch nie gesehen habe, die sich aus dem
     Meer erheben und zum Himmel aufsteigen.
    Ich zögere, denn plötzlich wirkt dieses Abenteuer seltsam bedrohlich. Vielleicht ist es nur das düstere Donnern der Brandung
     – eine Art Trommelwirbel, wie man sie bei Militärbegräbnissen hört; vielleicht liegt es daran, dass diese Einsichten in mein
     Verhalten unbequem sind. In diesem Moment fliegt eine Schar Seegänse in Formation über mich hinweg und landet auf Monomoys
     höchster Düne, bereit, mich zu begrüßen, wenn ich schließlich die Sandbrücke überquert habe. Sie scheinen mich anzutreiben,
     und daher verlängere ich meine Schritte über diese Landzunge, geboren aus Wellen und geformt vom Wind.
    Dann passiert es. Ich trete in ein Matschloch. Zuerst sinkt mein rechtes Bein ein, gefolgt vom linken – tiefer, tiefer, tiefer
     werde ich hineingezogen wie in Treibsand, bis zum Unterkörper plötzlich vergraben, mein Rucksack schwebt hinter mir. So sitze
     ich fest wie ein gekentertes Boot, das sich aufzurichten versucht. Mehr noch, es gibt kein Entrinnen – keinen Rettungsring,
     an dem ich mich festhalten könnte, niemanden, der mir hinterherspränge. Ich zwinge mich, ganz still zu bleiben, während ich
     überlege, wie ich meinen versinkenden Körper befreien kann. Ich strecke den Arm nach dem bisschen festen Ufer aus, das ich
     sehen kann, kralle meine Finger in den gefrorenen Sand und mühe mich ab, ein Bein freizubekommen. Der Sand fühlt sich wie
     nasser Zement an, und meine Turnschuhe verhalten sich wie Anker. Bald bin ich außer Atem und von Panik ergriffen. Ich versuche
     es erneut, während eine Welle nach der anderen auf mich niederkracht. Als ich die dunklen Wolken sah, hätte mir klar sein
     sollen, dass der Tag sich zu wenden beginnt, aber ich hatte nicht mit dieser Art von Erlebnisflut gerechnet. Dann schaffe
     ich es irgendwie durch schiere Willenskraft, ein Bein zu lockernund zu befreien. Sekunden später reiße ich das andere mit einem Ruck heraus und krieche so weit wie möglich von der Brandung
     weg, durchnässt, aber erleichtert.
    Wenn ich entschlossen war, das Meer in mich aufzunehmen, ist mir das mit Sicherheit gelungen. Was als ritueller Spaziergang
     gedacht war, um eine Dekade zu bewerten, ist zu einer Überlebensübung geworden. Ich rappele mich auf, richte meinen Rucksack
     wieder aus und marschiere flott zur anderen Seite, wo die Seegänse warten und ich auf der Düne zusammensacke. Während ich
     das gerade Geschehene verarbeite und die Erleichterung verspüre, die man empfindet, wenn man sich aus einer Klemme befreit
     hat, denke ich an all die Wochenendfrauen, die ich hierhergebracht habe.
    Unter ihnen war die Stotterin, die sich mit ihrem Handicap abfand und von ihrem Strandausflug verwegen genug zurückkehrte,
     um über sich in Gesang auszubrechen; das Magersuchtsopfer, das seine Tabellen vergrub und aufhörte, seinen Wert an abgenommenen
     Kilos zu messen; die achtunddreißigjährige Witwe und Mutter dreier Söhne, die ihrer Trauer freien Lauf ließ, um sich wieder
     der Menschheit anzuschließen; die Mutter einer im Sterben liegenden Tochter, die kam, um sich eine Ruhepause zu gönnen, damit
     sie zurückkehren und ihre Wache am Bett der Tochter fortsetzen konnte; die Frau, die Brustkrebs im dritten Stadium überlebt
     hatte und ihre Überlebensbrosche vergrub, um nicht nur als jemand betrachtet zu werden, der überlebt hat, sondern als jemand,
     der weiterzuleben gedenkt.
    Diese und Hunderte anderer Frauen haben sich der Gnade der Elemente ausgesetzt, um die Inspiration zu finden, ihr Leben

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