Zurück ans Meer
in
andere Bahnen zu lenken. Die Frauen, die diesen wilden und salzigen Ort besuchen, an dem Stürme und Jahreszeiten die Landschaft
täglich verändern, sehen hier mit eigenen Augen die Sinnlosigkeit, an alten Verhaltensweisen und Illusionen festzuhalten.
Hier entdecken sie ihre innerenStärken und erkennen, dass es am Ende keine Rettung von außen gibt. Jede von uns muss und kann sich selbst retten, genau wie
auch mir vor wenigen Augenblicken die Chance dazu gegeben wurde.
Während ich über meine kleine Erleuchtung lächle, dankbar dafür, am Leben zu sein, bemerke ich einen näher kommenden Mann
in einem offenbar militärischen Tarnanzug. Er trägt sogar eine Waffe in einem Halfter.
»Sie befinden sich auf Sperrgebiet«, verkündet er ohne Vorrede. Die Tatsache, dass er über mir aufragt, ist beunruhigend.
»Wie bitte?«, frage ich bestürzt und stehe rasch auf.
»Dieses Gebiet ist für Menschen gesperrt. Es ist ein Brutgebiet für bedrohte Vogelarten«, sagt er. »Haben Sie das Schild nicht
gesehen?«
Ich halte mich nicht damit auf, ihm zu erklären, dass ich mich gerade vor dem Versinken gerettet habe und hier nur Atem schöpfen
wollte. Irgendwie ahne ich, dass ihm das egal ist. Also gehe ich hinüber und lese eines seiner Schilder:
VORSCHRIFTEN FÜR NORD- UND SÜD-MONOMOY
Teile dieses Gebietes sind gesperrt,
um den Bruterfolg der Vögel zu gewährleisten.
U.S. Fish and Wildlife Service
»Mir scheint, als wäre
Teile
das ausschlaggebende Wort«, sage ich, begreife die Wichtigkeit der Semantik in solchen Momenten. »Welche Teile sind denn nun
menschlichen Wesen zugänglich?«
Der »Vogelmann« lässt sich von meinem Sarkasmus offenbar nicht beeindrucken. »Sehr wenige«, erwidert er.
»Dann haben wir ein Problem«, sage ich. »Ich soll mich in ein oder zwei Stunden auf der anderen Seite der Insel mit einem
Fischer treffen. Das ist meine einzige Möglichkeit, aufsFestland zurückzukehren. Haben Sie irgendwelche Vorschläge, wie ich dort hinkommen könnte?«
»Etwa eine Meile den Strand hinunter gibt es einen Einschnitt, kurz vor dem Leuchtturm. Wenn Sie nicht abweichen, bevor Sie
den Pfad erreichen, werde ich davon absehen, Ihnen die Hundert-Dollar-Strafe für unbefugtes Betreten aufzuerlegen.«
So wird man also als eine der Ersten, die auf dieser abgelegenen Insel an Land gegangen sind, willkommen geheißen! Ich suche
meine Sachen zusammen und verschwinde eilends, will mir nicht von diesem unsympathischen Mann noch weiter den Tag verderben
lassen.
Nebel zieht auf, und ich muss nach wie vor den Pfad finden. Ich beschleunige meine Schritte, erreiche höher gelegenes Gelände,
von dem aus ich den Sund erspähen kann, wende mich nach Westen und überquere, wenn auch gesetzwidrig, die Dünen, weil ich
meine Heimfahrt nicht verpassen möchte.
Fünfzehn Minuten später höre ich das tiefe Dröhnen eines Bootsmotors und hoffe, dass es Hillary ist. Tatsächlich taucht aus
dem Nebel sein treues kleines Boot auf, von dem aus Hillary das Ufer nach der »hübschen Dame« absucht. Obwohl ich erleichtert
bin, gerettet zu werden, empfinde ich auch Triumph über die Wanderung, die ich gerade gemacht habe. Ich habe es buchstäblich
auf die andere Seite geschafft. Viele Stürme haben die Form der Insel verändert, genau wie mich die Herausforderungen verändert
haben, denen ich mich in den letzten zehn Jahren stellen musste. Aber die gute Nachricht ist, dass ich dadurch etwas gewonnen
habe. Ich schnüre meine Turnschuhe auf, stecke sie in den Rucksack, kremple die Hosenbeine hoch und platsche entschlossen
ins Wasser, lasse die Sicherheit des Ufers hinter mir. Klammere dich an nichts fest, sage ich mir. In einer frischen Zukunft
liegt mehr Hoffnung. Eine neue Jahreszeit ist angebrochen, eine, in derich manche Felder werde brachliegen lassen, während ich andere für die Aussaat bereit machen werde. Wie Joan Erikson gerne
sagte: »Alle Samen haben Potenzial. Es wird Zeit, das Hinauszögern zu beenden und die Saat auszubringen.«
Wieder unterwegs
Ende Februar
Dies über alles; sei dir selber treu,
Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage,
Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.
William Shakespeare
An einem kalten Februarabend, in einer Winternacht, in der der Schnee so leicht und flockig fällt, dass er über die Straße
weht, komme ich mir vor wie in einer Schneekugel, wie man sie Kindern zu Weihnachten schenkt. Ich liebe diese Jahreszeit
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