Zurück ans Meer
stampfen und wir uns durch kabbeliges Wasser pflügen, bekomme ich Lust auf eine Tasse Kaffeeund begebe mich in die Snackbar, in der eine beachtliche Menge Leute ansteht. Schon spüre ich eine Veränderung in mir. Zu
Hause machen mich Schlangen im Supermarkt, in der Post oder am Flugplatz meist vollkommen fertig. Aber heute genieße ich die
Gespräche, die Eigenarten und die Menschen um mich herum. Sobald ich einen Fuß auf schottischen Boden setzte, fühlte ich mich,
als wäre ich nach Hause gekommen: meine rötliche Hautfarbe, mein rundes Gesicht, meine Lebenslust und Eigenwilligkeit sind
Charakteristika der Highlander, die mich umgeben. Am Flugplatz waren viele Schotten im Kilt, um zehn Uhr morgens bereits ein
wenig angetrunken und auf dem Weg zu einem Fußballspiel in Irland. Der einsame Dudelsackpfeifer, der für sie aufspielte, rührte
mich zu Tränen, weil ich meinen Vater in vielen dieser Männergesichter wiedererkannte. »Festhalten an der Vergangenheit ist
keine Pflicht«, sagte Oliver Wendell Holmes, »sondern nur eine Notwendigkeit.« Das Leben ist zu schwierig, als dass man überleben
könnte, ohne die eigenen Vorfahren zu achten, ohne diejenigen, die vor mir kamen, zu ehren und von ihnen zu lernen, während
ich gleichzeitig versuche, die Erbfaktoren aufzurüsten.
Ich bestelle einen Kaffee und ein Scone und ziehe mich auf einen Platz am Fenster zurück, um weiter aufs Meer zu schauen und
keinen Augenblick zu verpassen. Es macht Spaß, an einem Ort zu sein, an dem nichts von einem erwartet wird. Die Menschen um
mich herum zu beeindrucken, ist gar nicht nötig, und schon allein deshalb kann ich mich entspannen. In diesem fremden Land
kann ich alle Ansprüche anderer beiseiteschieben. Hier muss ich niemandem entgegenkommen und habe keine Verpflichtungen, außer
mich an Fähren- und Busfahrpläne zu halten. Ich bin halb um die Welt gereist, um ungebunden zu sein, und es fühlt sich göttlich
an. Kein Schwimmen gegen den Strom mehr. Stattdessen werde ich mich treiben lassen.
Ich betrachte meine Mitreisenden und überlege, warum sie wohl auf dieser Fähre sind. Die Schar Kinder, die sich um die Snackbar
drängt, will sicher nach Tobermory – seit Kurzem beliebt wegen einer gleichnamigen Kinderserie der BBC. Dann ist da ein hübsches junges, befangenes Mädchen, vermutlich eine Studentin, eine weitere attraktive Frau in den Zwanzigern,
die ihren Freund bewundernd anschaut, mehrere müde wirkende Schwangere und eine Mutter mit Zwillingen im Kinderwagen. Unwillkürlich
bin ich erleichtert, dass diese Phasen meines Lebens hinter mir liegen – so erfüllend sie auch waren, es ist an der Zeit,
für mich da zu sein. Es strengt mich an, mir klar zu machen, wie viel ich erlebt habe und wie sehr dieses vergangene Leben
bestimmt hat, wer ich jetzt bin. Ich lehne den Kopf zurück, während die Fähre weiter durch das tiefgrüne Wasser stampft.
In dem Moment kommt eine junge Holländerin zu mir und schreckt mich mit den Worten auf: »Sie müssen auf dem Weg nach Iona
sein.«
»Stimmt. Wie haben Sie das erraten?«, frage ich.
»Aufgrund des Aufklebers auf Ihrem Gepäck«, antwortet sie und zeigt auf meinen Rucksack und den Spruch »Unvoll endete Frau«. »Iona ist das Ziel vieler von uns, die auf der Suche nach der Göttin sind. Das ist eine sehr feminine Insel, wissen
Sie.«
Die Vorstellung, dass Iona feminin ist, fasziniert mich und fügt dem, warum ich gerufen wurde, eine weitere Bedeutung hinzu.
In letzter Zeit hat meine maskuline Seite fast die Oberhand gewonnen – fahren, vorantreiben, erledigen, durchführen. Ich glaube,
ich habe mich nach Ausgewogenheit gesehnt – wieder ruhiger, innerlicher, sanfter, einfacher, einladender und empfangender
zu sein. Wie May Sarton schrieb:
Nun komme ich zu mir. Es hat
Zeit gebraucht, viele Jahre und Orte;
Ich wurde aufgelöst und durchgeschüttelt,
Trug die Gesichter anderer Menschen,
Lief wie wild, als wäre da Zeit,
Schrecklich alt, schreie ich eine Warnung …
Eine selbst auferlegte Pilgerfahrt ist eine Suche, wie Joseph Campbell meinte, bei der man nicht weiß, wonach man sucht, sich
jedoch eingestanden hat, dass man nach etwas sucht. »Wenn man bereit ist, werden sich Türen öffnen, wo keine Türen waren,
und es werden Helfer wie auch schwierige Prüfungen kommen.« Denn eines ist gewiss – nichts geschieht rein zufällig.
Campbell betonte, dass der Pilger etwas aufgeben muss, um etwas zu bekommen,
Weitere Kostenlose Bücher