Zurück ans Meer
glaube, für heute sollten wir Schluss machen«, sagt Susan, nachdem der letzte Gang abgeräumt worden ist.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe Freundin«, sagt Ro.
Gestärkt durch die Wärme unserer Freundschaft, treten wir hinaus in die stürmische Kälte. Während ich nach Hause krieche,
können die Scheibenwischer die riesigen Schneeflockenkaum bewältigen. Es gibt Ereignisse und Beziehungen, die sich überlebt haben – wir müssen sie feiern und dann loslassen –, und es gibt die ungelebten Erfahrungen, nach denen wir suchen müssen, die wir willkommen heißen und in die wir uns einleben
müssen. Mag sein, dass ich die Straße nicht erkennen kann, doch meine unmittelbare Zukunft liegt deutlich vor mir.
Reisen auf uralten Straßen
Ende März
Wir sind keine menschlichen Wesen,
die eine spirituelle Reise machen …
wir sind spirituelle Wesen,
die eine menschliche Reise machen.
Pierre Teilhard de Chardin
Das Pfeifsignal der Fähre schreckt mich auf, und dann packt mich pure Erregung, als das schwere Schiff vom Kai ablegt und
das Küstenstädtchen Oban zu einem Punkt in der Ferne wird. Ich stehe an der Reling, atme tief durch und hoffe, einiges von
der Elsternmagie in mich aufzunehmen, welche die Inseln durchdringt, auf die wir zusteuern. Eine leichte Dünung besänftigt
alle Beklommenheit, die ich mit an Bord gebracht haben könnte, und eine Zeit lang gebe ich mich damit zufrieden, einfach nur
die Landschaft zu betrachten – ein hoher weißer Leuchtturm, der den großen Hafen bewacht, eine schöne mittelalterliche, mit
Moos bedeckte Burg, eine Seehundherde, die im Kielwasser der Fähre tanzt. Ich setze zur Geborgenheit über, so kommt es mir
wenigstens vor, bin unterwegs nach Iona, um zu einer Art Vagabundin zu werden, zu tun, was Robert Frost vorschlug, und den
weniger begangenen Weg einzuschlagen.
Kaum jemand fährt nach Iona, stelle ich zu meiner Freude fest, weil es so verdammt schwierig ist, dorthinzukommen. Meine Reise
über fast fünftausend Kilometer begann vor sechsunddreißig Stunden. Ich nahm den Nachtflug nach London, dann einen kürzeren
nach Glasgow, fuhr anschließend drei Stunden mit dem Zug in die Highlands, übernachtete in Oban und bestieg an diesem Nachmittag
die Fähre. Jetzt habe ich endlich das Gefühl, dass die eigentliche Reise begonnen hat. Der schwerste Teil liegt hinter mir
– mich loszueisen, die Entscheidung zu treffen, überhaupt ein solches Wagnis einzugehen, und mich selbst davon zu überzeugen,
dass ich nicht maßlos bin. So müssen sich die Frauen fühlen, die anmeinen Wochenendworkshops teilnehmen. Viele von ihnen kommen von weither und sind aufgeregt und beklommen zugleich, wunderbar
frei und nervös wegen der unbekannten Schritte, die sie unternehmen werden. In Anbetracht der vielen Vorbereitungen ist diese
Fahrt zur Insel Mull zu kurz – nur anderthalb Stunden, kaum Zeit genug, Druck abzulassen, das Tempo zu drosseln und vom hektischen
Gewusel des Festlandes auf die Gelassenheit des Insellebens umzuschalten. Ich setze mich auf einen Deckstuhl und lasse mich
vom Schiff in Jenseitigkeit schaukeln, denn diese Reise soll mich aus meinem Kopf hinaus und in mein Herz hineinbringen. Ich
möchte, dass der zweite Teil meines Lebens ebenso bedeutsam ist wie der erste.
Joan Erikson hat mich als Erste erkennen lassen, wie wertvoll es ist, ausgetretene Pfade zu verlassen, wenn man auf der Suche
nach neuer Ausrichtung und spiritueller Wiederbelebung ist. Genau das tat sie, als sie nach Europa ausriss, um dort Isadora
Duncan zu finden. So etwas wie Ausdruckstanz gab es zu der Zeit in Amerika nicht, doch sie wusste, dass sich ihr Körper noch
auf ganz andere Weise ausdrücken konnte als in der vom klassischen Ballett vorgeschriebenen. Und daher verkaufte sie, einer
inneren Stimme folgend, den größten Teil ihrer Habseligkeiten, erstand eine Dampfschiffkarte und ging auf die Suche nach etwas,
das ihre Seele ansprechen würde.
»Vom Leben zu lernen ist viel förderlicher als aus einem Buch«, pflegte sie zu sagen, »weil man in Aktion tritt. Aktion ruft
Reaktion wie auch Veränderung hervor.« Joans unkonventionelle Art spornt mich an, während ich mich bereit mache, über eine
Schwelle zu treten. Und Iona, verborgen am Rande der Welt, ist der perfekte Ort für eine Pilgerfahrt. Ich fühle mich, als
hätte man mich dorthin gerufen, wo ich Klarheit und Verwandlung finden kann.
Während die Maschinen
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