Zurück ans Meer
Flasche ans Licht. »Entkorkte Diven – Für süffelnde Schwestern«, lese ich. »Wie ungeheuer passend.«
Beide sehen müde aus, Ro mehr als Susan.
»Wie geht’s dem Baby?«, frage ich. Die Ringe unter ihren Augen deuten auf schlaflose Nächte hin.
»Dem Baby geht’s gut. Hannah, die Zweijährige, machtProbleme. Sie fordert viel Aufmerksamkeit. Wir holen sie für eine Woche aufs Cape, damit ihre Eltern ein bisschen Ruhe bekommen.«
»Mitten im Winter?«, staunt Susan. »Was willst du denn mit ihr anfangen? Ich hatte es schon schwer genug mit Jazz im Oktober,
aber da konnten wir wenigstens an den Strand gehen.«
Ich habe Mitgefühl mit meinen Freundinnen, halte aber den Mund. Sie hatten bisher nie verstanden, wie anstrengend die Sommer
sind, wenn alle zu Besuch kommen.
Die Kellnerin kommt mit einer Platte brutzelnder Artischockenherzen, gefüllt mit Gorgonzola.
»Hmmm! Lecker«, sage ich, lange zu und genieße den warmen Käsegeschmack.
»Wir haben schon vorgegriffen und eine Art Tapas-Menü bestellt«, sagt Ro, »damit wir nicht ewig über der Speisekarte brüten
müssen.«
»Ihr denkt auch an alles«, sage ich. »Es ist so nett, wenn sich mal jemand um einen kümmert.« Ich lehne mich zurück und trinke
von meinem Wein, als der Unterhalter des Abends, ein Folksänger, um allgemeine Aufmerksamkeit bittet.
»Dort drüben in der Ecke sitzt eine Frau«, sagt er und deutet auf mich, »der ich meinen nächsten Song widme – ein altes Lied
der Beatles aus dem Sgt.-Pepper-Album.«
»Vielen Dank«, flüstere ich Ro zu, mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme, als er den McCartney-Song »When I’m Sixty-Four«
zu singen beginnt. »Jetzt wissen alle, wie alt ich bin, ob ich will oder nicht.« Trotzdem fällt es schwer, sich nicht zu der
Melodie zu wiegen, während andere mit dem Fuß wippen und stumm den Text mitsingen.
Wie bin ich überhaupt vierundsechzig geworden?, frage ich mich mit Tränen in den Augen. Vor zehn Jahren am South Beach begann
ich mir ernsthaft Rechenschaft über meine fünfeinhalb Jahrzehnte abzulegen, und die gute Nachricht ist,dass sich mein Leben nach wie vor entfaltet. Mehr noch, mir bleibt Zeit, mich weiterzuentwickeln und besser zu werden. Ich
komme in die Gegenwart zurück, lausche dem Text, der von einer erhofften Zukunft spricht, und dann ist der Song zu Ende. Ich
werfe Ro, die für diese musikalische Geste verantwortlich ist, einen Luftkuss zu.
»Also, wie fühlt man sich, wenn man vierundsechzig ist?«, fragt sie.
»Ich bin erstaunt, hier zu sein, aber ich fühle mich wie vierzig, nicht wie sechzig. Ich weiß nur, dass ich von jetzt an zielgerichteter
sein möchte. Das letzte Jahrzehnt ist viel zu verschwommen. Obwohl es ein Wirbelwind war und einige erstaunliche Dinge geschehen
sind, war es irgendwie surreal. Wisst ihr, was ich meine?«
Sie nicken beide, vor allem Susan. »Da ich bisher nie richtig verliebt war, bete ich ständig darum, jeden flüchtigen Augenblick
auch wirklich zu genießen. Es ist zu schön, um wahr zu sein, versteht ihr, was ich meine? Simi und ich sind so dankbar für
jeden Augenblick, aber wir wünschten, wir könnten die Uhr zurückstellen.«
»Du bist auf einer zweiten Reise«, sage ich.
»Häh?«, macht Susan. »Was soll das sein?«
»Du greifst mitten in der Fahrt nach dem Leben«, erkläre ich. »Zweite Reisen werden einem für gewöhnlich aufgedrängt. Sie
können tragisch oder wunderbar verlaufen. Bei deiner trifft sicherlich Letzteres zu.«
»Und ob«, unterbricht Ro, als die Kellnerin den nächsten Gang bringt, eine Platte Venusmuscheln.
»Aber die ganze Instandhaltung muss doch anstrengend sein – du weißt schon, diese Maniküren, Pediküren, sich das Haar in einem
schicken Bostoner Salon machen zu lassen. Gott, ich weiß gar nicht mehr, wie das war, ein Rendezvous zu haben«, sage ich.
»Wie steht es mit dir, Ro? Erinnerst du dich daran?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Weißt du, wir sind bloß total neidisch«, sage ich und springe Susan bei.
»Wie wär’s, wenn du deine Geschenke öffnest?«, schlägt sie vor, um von sich abzulenken. Sie reicht mir eine Schachtel, an
deren Schleife Muscheln baumeln. »Da du Fisch bist, konnte ich nicht widerstehen.« In der Schachtel befindet sich eine große
Flasche Körpermilch mit dem Namen Ebbe.
»Vielen Dank, aber ich habe das Gefühl, dass das Wasser wieder aufläuft und ich in Bewegung bin.«
»Wirklich?«, fragt Ro mit leisem Argwohn, da sie solche
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