Zurück ans Meer
daher befolgte ich die Regeln für eine erfolgreiche
Pilgerfahrt, und gab vor meinem Aufbruch von zu Hause die Projekte auf, die mich so sehr belasteten. Ich ließ meine Kinder
los, überließ meine Mutter dem betreuten Wohnen und vertraute darauf, dass mein Mann für meine Suche Verständnis haben würde.
Alle kritisierten an mir herum, ließen mir keine Ruhe wegen meines Lebensrhythmus, meiner hektischen Zeitpläne und des erhöhten
Blutdrucks. Aber ich wusste, dass es nur ein Teil des Problems war. Der andere Teil war nach wie vor unbekannt. Mir war nicht
wohl dabei, mit meinem Leben weiterzumachen, ohne tiefer hinabzugehen. Wie mit einem Stein im Schuh, wurde ich ständig daran
erinnert, dass ich diesen Ort des Friedens noch nicht erreicht hatte, an dem ich eine natürliche Energie besitzen würde, die
von innen ausströmt, nicht die Energie, die sich aus schierer Anstrengung und Willenskraft ableitet.
Meine Stärken zu kennen – diese Erikson’schen Tugenden wie Hoffnung, Wille, Zielbewusstheit, Kompetenz, Treue und Liebe, die
durch das Lösen von Konflikten entstehen –, war das eine. Aber ich sehnte mich nach jenen Eigenschaften, die man nicht durch Kampf erlangt, immateriellen Werten wiepure Freude, Leidenschaft, Verletzlichkeit, innere Zufriedenheit, Seelenfrieden. In meinem Alltag gab es längst nicht genug
seelenvolle Momente, und ich wusste, dass ich in dem riesigen Ödland meiner äußeren Welt feststecken würde, wenn ich nichts
unternahm.
Kurzum, ich spürte, dass da noch mehr zu erreichen war, dass, wie Henry Miller meinte »jeder Mensch seine eigene Bestimmung
hat … das einzige Gebot lautet, ihr zu folgen, sie anzunehmen, egal, wohin das führt«.
Vor Kurzem sprach mich ein vierundvierzigjähriger Mann nach einem meiner Vorträge an, in dem ich über den Unterschied zwischen
Wichtigkeit und Erfolg gesprochen und angeführt hatte, Zielbewusstheit sei wichtiger als Macht. Er war Direktor seiner eigenen
Firma und hatte offenbar alles erreicht, doch seine Mutter war vor drei Wochen gestorben, und ihr Tod hatte in ihm eine Leere
hinterlassen. Plötzlich suchte er nach mehr als Erfolg und Macht. »Wie kann ich das bekommen?«, fragte er und wischte sich
Tränen aus den Augen.
Durch inneres Wissen, wollte ich sagen, aber das hätte kaum etwas erklärt. Wie kehrt man das ständige Vorwärtsdrängen auf
der Suche nach Erfolg um und richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf ein aktives Innenleben? Leider gibt es keinen direkten
Weg, der uns zu den intuitiven, instinktiven und spirituellen Orten in uns führt. Ich hatte keine Antwort für diesen Mann,
weil ich selbst gerade erst begann, meine Aufmerksamkeit nach innen zu richten.
Also orientierte ich mich einfach an den Worten von C. G. Jung: »Für Menschen über dreißig sind alle Probleme eher spirituell als psychologisch«, sagte ich. »Obwohl man ganz stark
mit äußeren Zielen beschäftigt ist, wird man das, worauf es wirklich ankommt, nur bewältigen können, wenn man innehält, das
Profane hinter sich lässt und die Trauer verarbeitet, die mit jeder Veränderung einhergeht.«
Und genau das habe ich vor. Gerade ist der Pfeifton der Fähre erklungen, der unsere Ankunft in dem Ort Craignure auf der Insel
Mull ankündigt. Ich eile zum Bug, möchte den Bleistiftstrich der Küste entdecken, sobald er aus dem Nebel auftaucht. Es scheint
ein paar kleine Häuser zu geben und einen ziemlich großen Kai. Ansonsten kommen nur cabernetfarbene Moore und Berge in Sicht.
Mit dem Gefühl, bereits nach Avalon übergesetzt zu haben, greife ich nach meinem Gepäck, mache mich zur Gangway auf und folge
den anderen Passagieren auf den Kai. Ein rascher Blick über die Schulter auf die Geschäftigkeit, die ich hinter mir gelassen
habe, reicht aus, um mich von allem zu verabschieden – und ich spreche das sogar laut aus: von Handys, E-Mails , Zeitungen und anderen Medien und vor allem von Menschen, die größtenteils wohlwollend sind, von denen sich aber kaum jemand
auf diesem sehr eigentümlichen Pfad befindet, den ich gewählt habe.
Ich gehe zu den Bussen, die bereitstehen, uns zu einem von zwei möglichen Zielorten zu bringen. Die Türen des Busses nach
Tobermory sind weit geöffnet, aber der Bus nach Fionnphort und zur Fähre nach Iona ist abgesperrt, und kein Fahrer ist in
Sicht.
»Da fahren wir erst später hin«, teilt mir ein Fahrkartenverkäufer mit. Was soll ich nur mehrere Stunden in einem
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