Zurück ans Meer
eilt, um sechs oder sieben Gästen einen späten Lunch zu servieren.
Gleich darauf kommt mein Tee, und wieder bin ich sprachlos. Die braun-schwarze Teekanne ist aus genau derselben Keramik wie
die meiner Großmutter väterlicherseits. Sie muss sie aus der alten Heimat mitgebracht haben. Obwohl der Ausdruck »Zufälle
gibt es nicht« viel zu häufig verwendet wird, habe ich unwillkürlich das Gefühl, dass es mir bestimmt war, hier und jetzt
an diesen Ort zu kommen. Es gab zu viele Zeichen, die ich nicht mehr außer Acht lassen konnte. »Geh, wohin deine Gebete dich
führen«, sagte der Theologe Frederick Buechner, und als ich meinen Tee eingieße und mehrere Zuckerwürfel hinzufüge, weiß ich,
dass ich das getan habe.
Abbey Road
Anfang April
Ich habe entdeckt, dass man nicht unbedingt wissen muss,
wonach man sucht – es reicht, zu wissen, dass man nach
etwas sucht und es dringend finden muss. Es ist die
Dringlichkeit, die sich ans Werk macht, und die Bereitschaft
zu empfangen, die schließlich die Antworten findet.
Janine Pommy Vega
Graupel und Schnee prasseln an das Fenster meines kleinen Cottages. Der Wind ist so stürmisch, dass er mich weckt, und ich
spähe hinaus. Die Narzissen, die der Insel gestern ein strahlendes Aussehen verliehen, sind alle vom Frost geknickt. Der Frühling
ist eine Zeit des Übergangs – kann sich weder für das eine noch für das andere entscheiden, genau so, wie es mir im Moment
ergeht. Ich spüre, dass ich wieder in einer Phase der Ebbe bin, bereit zu wachsen und mich auszudehnen, und doch von einer
seltsamen Trägheit zurückgehalten werde.
Wenn ich tatsächlich metaphorisch nach Avalon übergesetzt habe, dann erklärt das, warum ich mich seit meiner Ankunft vor vier
Tagen so betäubt fühle – fast wie in Trance – ein Gefühl, als sei ich aus einem tiefen Schlaf mit der Frage erwacht: Wo bin
ich? Wie bin ich hierhergekommen? Was soll ich jetzt tun? Die letzte Frage beunruhigt mich am meisten. Es war das eine, den
Sprung zu wagen, meine Taschen zu packen, ein Flugzeug zu besteigen und eigentlich nicht so genau zu wissen oder mich darum
zu kümmern, wo ich landen könnte. Während dieses Teils des Abenteuers hatte ich das Gefühl, ein anderer hätte das Kommando
übernommen. Aber nachdem ich jetzt hier bin, liegt es allein an mir, etwas Sinnvolles mit meiner Zeit anzufangen. Ich wollte
daraus eine Art Pilgerfahrt machen, doch ich habe nicht die geringste Idee, wie so etwas ablaufen sollte, außer herumzuwandern
und für die Launen dieses Ortes und seiner Menschen offen zu sein.
Auf dieser Insel gibt es keine Berge zu erklimmen, keine Ziele zu erreichen, keine geraden Pfade, denen man folgenkönnte, und ich bleibe verwirrt. Gleichwohl hege ich die Hoffnung, dass die angeblich mächtige Energie von Iona mich zum Kern
der Sache führen wird. Ich habe einen langen Weg auf mich genommen, um mein Leben zu ändern, und dieser ungewisse Zustand,
in dem ich mich jetzt befinde, frustriert mich. Aber ich rufe mir ins Gedächtnis, dass es – ganz gleich, wo ich bin – keinen
Zweck hat, auf eine Antwort zu drängen, genauso wenig wie die Engel anzuflehen oder zu beschwatzen. Außerdem fühle ich mich
rundum wohl in diesem weiß getünchten Kleinbauerncottage.
Zuerst kam ich mir wie ein Eindringling vor – verdammt einsam, genau genommen allein gelassen in diesen Räumen ohne offizielle
Begrüßung. Meine erste Reaktion war, mich sofort wieder in die Sicherheit des Argyll zu flüchten. Aber kaum hatte ich die
Vorhänge zurückgezogen und den Teekessel aufgesetzt, fand ich alle möglichen Begrüßungen einer Gastgeberin, die, wie ich erfahren
hatte, außerhalb der Saison selten auf der Insel weilt.
Das Cottage ist spärlich mit ausrangierten Möbeln eingerichtet, die offenbar aus ihrem Haus irgendwo auf dem Festland stammen.
Es ist gemütlich, mit Küche und Wohnraum in einem, sowie zwei kleinen Schlafzimmern und einem winzigen Bad mit einer altmodischen
Wanne auf Füßen. Die Wände sind getäfelt und in Senfgelb gestrichen, und es gibt einen emaillierten Küchentisch von etwa 1935,
auf den meine Gastgeberin eine Flasche Portwein, mehrere Teesorten und eine halbe Flasche Single-Malt gestellt hat. Jede Menge
Kienspäne, Kohle und Holz sind neben dem Kamin aufgeschichtet. Doch ich fühlte mich erst vollkommen zu Hause, als ich eine
über den Sessel am Kamin drapierte Decke sah – ein Karoplaid, natürlich im
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