Zurueck auf Glueck
»Ach, Wal!«, stöhnte sie. »Sollen wir ihm einen Bauklötzchennachhilfelehrer suchen?«
491.
»Ich glaube, wenn ich noch mal ganz von vorn anfangen dürfte«, sagte Wally, »würde ich Polymerchemiker werden.«
492.
LinLin dagegen war das perfekte Kind. Sie schrie nie, aß mit großem Appetit, schlief ein, sobald sie in ihrem Bettchen lag, und interessierte sich für Bücher, soweit man das Zerreißen selbiger als Interesse bezeichnen kann. Als Imogene sie zum ersten Mal in der Kindertagesstätte ablieferte, macht LinLin keinerlei Theater. Die anderen Eltern waren neidisch. Wieder zu Hause, rief Imogene in ihrer nicht gerade geringen Verzweiflung als Erstes Wally an: »Ich habe gelesen, dass es ein schlechtes Zeichen ist, wenn es keine schlechten Zeichen gibt.«
493.
»Gut, aber bei der Körpergröße ist sie nur auf der 63. Perzentile«, beruhigte Wally sie.
494.
495.
Laut Jean-Jacques Rousseau – dem politischen Philosophen, nicht dem Eiergroßhändler aus Indianapolis – erlangt wahres Glück nur der, der tiefe Seelenruhe findet. So tief muss sie sein, dass dem, der sie gefunden hat, die Zeit stillzustehen scheint. Imogene und Wally brauchten keinen Rousseau, um zu wissen, dass sie nicht glücklich waren.
(Infohäppchen für zwischendurch: Jean-Jacques Rousseau hatte fünf Kinder. Er schob sie samt und sonders ins Findlingsheim ab.)
496.
Wally und Imogene zankten sich, wer zu Hause bleiben und wer zum Vorschulelternorientierungsabend gehen durfte. Oder musste. Das war ihnen beiden nicht ganz klar. An der Familienfront war die Katastrophe vorprogrammiert. In den Gefilden der Bildung hockte man an kleinen Tischchen und lauschte – zusammen mit drei Immobilienmaklerinnen, zwei Schmuckdesignerinnen, einer Therapeutin, fünf Nurhausfrauen, einer traurigen Witwe und einem Großhändler für koschere Rinderbrust – Miss Scattergoods Verlautbarungen darüber, an welchen Tagen es zum (rosinenfreien!) Plätzchen Saft geben würde und warum man sich nach dem Toilettengang die Hände zu waschen hat.
»Ich muss hier raus«, dachte Imogene. »Ich muss hier raus«, dachte Wally.
497.
Es gab sie also doch, die Momente, da Imogene und Wally einer Meinung waren.
498.
Oliver, ein Junge aus Flummis Klasse, starb, während er an seinen Hausaufgaben saß. Am nächsten Tag wurde die große Pause der Schuljahre eins bis vier um fünfzehn Minuten verlängert. Außerdem durften die Kinder – mussten aber nicht – das »Aufrichtige Anteilnahme«-Poster unterschreiben, das Rektor Rakoff zu diesem Anlass selbst gebastelt hatte.
499.
Flummi schrieb an Olivers Eltern: »Vieleicht ist er garnicht tod! ☺.«
500.
Andere Kinder in ihrem Alter waren dem Wort höchstwahrscheinlich noch nie begegnet, LinLin dagegen, frühreif, wie sie war, konnte mit dem Wort Insolvenzverwalter sogar einen vollständigen Satz bilden. »Ihr müsst versprechen, mich nicht auszulachen«, sagte LinLin eines Abends beim Zubettgehen zu Imogene und Wally, »aber ich glaube fast, ich bin ein Insolvenzverwalter.« Sie setzte sich kerzengerade im Bett auf und trug ihre Argumente vor. Sosehr Imogene sich auch bemühte, sie konnte ihr Entsetzen nicht verbergen.
501.
Vor LinLins Kinderzimmer fragte sie Wally flüsternd: »Muss sie zum Psychiater?«
»Am besten lassen wir sie in Ruhe.« Wallys Blick ruhte versonnen auf seiner Tochter, die trotz verknoteter Gliedmaßen bereits tief und fest eingeschlafen war. Ohne Wissen ihrer Eltern hatte LinLin sich diese Schlafposition selbst antrainiert. Sie schien ihr am besten dafür geeignet, bis in alle Ewigkeit darin auszuharren, falls sie in der Nacht von etwas Grauenvollem heimgesucht wurde und in eine Schreckstarre verfiel. »Sie sieht so glücklich aus.«
»Aber, Wal«, sagte Imogene.
»Und überhaupt«, sagte Wally. »Woher wollen wir eigentlich wissen, dass sie kein Insolvenzverwalter ist?«
502.
Imogene befürchtete, dass es früher oder später ein böses Erwachen geben würde.
503.
Doch das böse Erwachen wollte sich, zumindest vorläufig, einfach nicht einstellen. LinLin hatte zahllose Freunde, war der Liebling von Lehrern, Babysittern und Essenslieferanten und wurde in der ersten Klasse von ihren Mitschülern zur Hoffnungsträgerin für die zweite Klasse gewählt. LinLins hartnäckiges Problemmanko verdross Imogene ungemein.
»Können wir es nicht endlich hinter uns bringen?«, dachte sie.
504.
Imogene war derart beunruhigt, dass sie irgendwann Dr. Kleaner aufsuchte. »Darf ich Ihnen einen Rat
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