Zusammen Allein
.....rktplatz kommen.
Das Schriftstück zu entziffern war nicht schwer. Immer wieder hatte Petre mir erzählt, was er tun würde, wenn er mutiger wäre. Bei dem Papier handelte es sich um einen Aufruf zum Protest, so viel stand fest. Erschrocken schloss ich die Vorhänge, als könne ein vorbeifliegender Vogel die Nachricht aufschnappen und einem Verräter zutragen. Ich dachte an Constantin und dass er auf der anderen, auf der sicheren Seite stand. Ein Spitzel war nichts für mich, aber mit einem Landesverräter konnte ich ebenso wenig glücklich werden.
Angst und Unglaube fochten in meinem Inneren einen hartnäckigen Kampf aus. Doch wer auch immer für kurze Zeit siegte, immer lautete mein Entschluss gleich: Ich muss alles Material vernichten, selbst auf die Gefahr hin, dass Petre nie mehr ein Wort mit mir spricht.
Um nicht aufzufallen, nahm ich am Abendessen teil, obwohl mir der Hals wie zugeschnürt war und ich keinen Hunger verspürte. Puscha und Misch konnten, nachdem sie jeweils zwei Stunden in eisiger Kälte ausgeharrt hatten, nicht mehr als Hühnerfüße und ‑hälse vorweisen. Die Ware, lieblos in kleine Plastiktüten gestopft, wog nicht mehr als ein halbes Kilo. Trotzdem, davon würden wir tagelang essen. Vier Stunden also waren sie angestanden, vier Stunden lang erzählten siedavon. Wer da gewesen war, wer frühzeitig aufgegeben, wer sich vorgedrängt und wer einen Streit vom Zaun gebrochen hatte. Auch dass es an der Hintertür immer wieder zu unerlaubten »Warenverschiebungen« an Bekannte gekommen war, erschien meiner Großmutter berichtenswert, dabei profitierte sie selbst von ihren Beziehungen im Milchladen.
»Joi, diese Paraplutch, eine Frau ist sogar in Ohnmacht gefallen, sie war schwanger«, zeterte Puscha. »Also, Schwangere sollten gutes Hühnerfleisch bekommen, am besten gratis, und nicht anstehen müssen.«
»In diesem Land gibt es kein gutes Hühnerfleisch«, lachte Misch sie aus. »Wusstest du nicht, dass unsere Kaiserin (gemeint war Ceauşescus Frau) eine Neuzüchtung auf den Markt gebracht hat. Sie ist ja die größte Wissenschaftlerin aller Zeiten, und daher hat sie ein hennenartiges Tier fabriziert, das nur aus Kopf und Füßen besteht, den sogenannten rumänischen Kopffüßler.«
6
Seit der Kindergartenzeit hatte ich keine allerbeste Freundin mehr. Karin mochte ich, aber sie war mir zu spitz: spitzgesichtig, spitzzüngig und spitzfindig. Vor allem, wenn es um Petre ging, gerieten wir oft aneinander. Dennoch suchte ich sie auf. Ich musste dringend mit ihr reden. Leider war sie nicht zu Hause. Was dann passierte, werde ich mir nie verzeihen. Auf dem Heimweg traf ich Rosi. Sie war elf Jahre älter als ich und arbeitete als Krankenschwester. Ich hakte mich bei ihr unter. Rosi ging in unserem Haus ein und aus. Sie liebte Puscha und holte sich oft Rat bei ihr. Jetzt wollte ich den Spieß umdrehen und mit ihr über die Entdeckung im Keller sprechen. Natürlich ohne zu erwähnen, dass ich die Entdeckung gemacht hatte und wo und wen sie betraf. Rosi war sehr schön, hatte hüftlange Haare, dicht, rötlich. Ich merkte nicht, dass auch sie Kummer hatte. Mir fiel nur auf, dass sie kaum Fragen stellte.
Drei Tage später standen vier Männer in Zivil vor dem Haus meiner Großmutter. Alle Räume wurden durchsucht, vor allem der verschlossene Kellerraum. Sie fanden gehortete Lebensmittel, jedoch keine Gegenstände, die zum Drucken von Pamphleten geeignet schienen, nicht einmal ein weißes Blatt Papier. Wegen der Lebensmittel erhielt Misch eine Verwarnung, sein Gehalt sollte gekürzt werden. Zudem musste Petre damit rechnen, dass sein Arbeitseinsatz verlängert wurde.
Rosi hatte beim Leben ihrer Mutter geschworen, dass sie nichts erzählen würde. Aber wer sonst, wenn nicht sie, hätte den Verrat begehen und die Geheimen informieren können? An einen Zufall konnte ich nicht glauben, wenngleich mir das lieber gewesen wäre. Aufgebracht fuhr ich zum Bahnhof, sie wohnte ganz in der Nähe. Ihre Mutter öffnete mir die Tür. Als ich ihr ins Gesicht sah, ahnte ich, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Aus gelben Augen starrte sie mich an, ihre Schultern und die Brust hatte sie nicht unter Kontrolle, alles zuckte. Für einen kurzen Augenblick befriedigte mich dieser Anblick. Der Fluch, den ich vor Stunden gegen ihre Tochter ausgesprochen hatte, schien die Familie bereits erreicht zu haben. Ich fragte nach Rosi. Doch statt einer Antwort trat nun auch Rosis Vater in den Türrahmen. Er
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