Zusammen Allein
Schulter. »Besser, du gehst heim.« Tatsächlich begann die Schlange sich aufzulösen. Das schwere Eisengitter der Metzgerei rasselte zu Boden. Jetzt schon, ich schaute auf die Uhr. In wenigen Minuten sollte Misch mich ablösen.
»Kommt morgen wieder!«, schrie die Verkäuferin. »Ihr benehmt euch wie Tiere.« Ich sah, wie sie mit einem Besenstiel auf diejenigen einschlug, die neben ihr durch die Seitentür in den Laden einzudringen versuchten. Und ich machte mich auf den Weg, um Misch mitzuteilen, dass es sich nicht lohnte, die Redaktion früher zu verlassen.
Am 1. 1. 1988 war ich immer noch Jungfrau. Wir hätten uns aufs Philosophieren verlegen können, Petre und ich. Doch auch hierbei stellte sich bald heraus, dass der Altersunterschied zu groß war. Was ich später einmal werden wolle, fragte er mich am Silvesterabend. Die Küche war uns zu eng geworden, und wir hatten uns trotz der Kälte in mein Zimmer geflüchtet. Puscha hatte die ganze bucklige Verwandtschaft und die halbe Nachbarschaft eingeladen; sie mimte die gekrönte Königin. Und alle gehorteten Nahrungsmittel waren geopfert worden, um ein wahrlich fürstliches Mahl zuzubereiten. Es gab Leckerbissen wie Ciorbă de perişoară mit reichlich Gemüse, Greiwenhiewes und verschiedene Mehlspeisen. Ein paar Buchteln hatten wir uns mit hochgenommen, deshalb sprach ich mit vollem Mund. Gegen die Kälte tranken wir Ţuică.
»Lehrerin, vielleicht.«
»Und Kinder, willst du Kinder haben?«
Aufrecht hockte er neben mir. Meine Hand hielt er, weil ich darauf bestand. Ihm schien es zu reichen, mich anzuschauen. Aber er nannte mich wieder: Mein Schneewittchen.
»Natürlich will ich Kinder, jede Frau wünscht sich Kinder. Aber ich will nur zwei, vielleicht auch nur eins.«
An der Wand gegenüber kroch eine Kakerlakenfamilie über die Tapete. Sie sahen selbstsicher aus. In ihrer Welt gab es keine Fragen, keine zögerlichen Antworten. »Und du?«
»Ich will viele. Aber sie sollen in einem freien Land leben, nicht hier.« Wieder fing er damit an. Weil ich nichts sagte, lediglich die Augenbrauen hochzog, flüsterte er mir zu: »Ceauşescu wird sich nicht ewig halten können.Es wird eine Revolution geben. Die Menschen werden sich wehren, sie werden kämpfen. In Polen und Russland gärt es.«
Weggehen, etwas Neues suchen, diese Gedanken waren mir vertraut, zwei Drittel der deutschsprachigen Minderheit hatte das Land verlassen, aber dass der Sozialismus revolutioniert werden könnte, diese Forderung schien absurd.
»Der Sozialismus ist die Revolution!«, beharrte ich.
»Nimm eine gute Idee, scheiß drauf, und du siehst nur noch Scheiße.«
»Was meinst du?«
»Dieses Stehenbleiben, dieses Nichtdenken, es kotzt mich an. Und ich verstehe es nicht. Bei den Alten, ja, da kann man eine gewisse Resignation verstehen, aber nicht bei den Jungen. Die tun, als wüssten sie schon alles, als hätten sie alles gesehen. Oder sie haben mit sechzehn beschlossen, dass nichts Neues möglich ist. Sie resignieren mit sechzehn! Was ich mir wünsche, ist Offenheit und dass wir kämpfen. Wir alle.«
»Für Neues?« Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Neues gab es woanders, in Rumänien ganz bestimmt nicht. Und hatte er auch mich in seine Kritik der verbohrten Sechzehnjährigen einbezogen? Tatsächlich wollte ich nichts von einer Revolution hören. Wie konnte ich Petre nur von diesen Gedanken ablenken? Sein Gerede machte mir Angst. Sprach er auch mit anderen darüber, in der gleichen Offenheit? Für weit kleinere Vergehen konnte man eingesperrt werden. Während ich über eine passende Antwort nachdachte, beobachtete ich die Kakerlaken. Eine hatte den Anschluss an ihre Familie verpasst. Irritiert blieb sie unterhalbdes Loches, das am Übergang zum Plafond den Kakerlakenwohnungseingang darstellte, stehen. »Du hast recht, er kann ja nicht ewig leben«, versuchte ich das Gespräch zu beenden und warf, weil ich nichts anderes griffbereit hatte, ein Buch nach dem Kakerlakennachzügler. Natürlich verfehlte ich ihn, natürlich gab er nun Gas und rannte zielstrebig nach Hause.
»Wart, den Russen krieg ich.«
Petre war mit einem Satz an der Wand und schlug mit der flachen Hand auf das Mistvieh ein. Ein hohles Knacken, mehr nicht, entschied über Leben und Tod. Glücklich lachend verließ Petre das Zimmer. Hände waschen, behauptete er. Doch er vergaß zurückzukommen. Dabei wollte ich ihn fragen, mit welcher Art Frau er Kinder bekommen und großziehen wollte. Offensichtlich
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