Zusammen ist man weniger allein
Pakistan? Und was hatte er erlebt, daß er jetzt hier war? Heute? Welche Boote? Welche Verkehrswege? Welche Hoffnungen? Zu welchem Preis? Unter welchem Verzicht, mit welchen Ängsten? Was für eine Zukunft? Wo lebte er? Mit wie vielen Menschen? Und wo waren seine Kinder?
Als sie merkte, daß ihre Anwesenheit ihn nervös machte, zog sie kopfschüttelnd davon.
»Wo kommt der Tellerwäscher her?«
»Aus Madagaskar.«
Erster Flop.
»Spricht er französisch?«
»Na klar! Er ist seit zwanzig Jahren hier!«
Ab in die Ecke, du Scheinheilige.
Sie war müde. Es gab ständig etwas Neues zu schälen, zu schneiden, zu putzen oder aufzuräumen. Was für ein Chaos. Wie schafften es die Leute bloß, das alles zu verschlingen? Wozu sollte es gut sein, sich die Wampe so vollzuschlagen? Sie würden ja platzen! 220 Euro, wieviel war das? Fast 1500 Franc. Pff … Was man für das Geld alles kaufen könnte. Wenn man es geschickt anstellte, konnte man damit sogar eine kleine Reise unternehmen. Nach Italien zum Beispiel. Sich auf die Terrasse eines kleinen Cafés setzen und sich von der Unterhaltung hübscher junger Mädchen einlullen lassen, die sich bestimmt die gleichen albernen Geschichten erzählten wie alle Mädchen auf der Welt, wobei sie kleine, dicke Kaffeetassen an den Mund führten, deren Inhalt immer ein wenig zu süß war.
All die Skizzen, die Plätze, die Gesichter, die lethargischen Katzen und die phantastischen Sachen, die man für dieses Geld bekommen konnte. Bücher, Platten, sogar Klamotten, die ein ganzes Leben lang hielten, während das hier in ein paar Stunden vorbei wäre, verzehrt, verdaut und ausgeschieden.
Es war nicht richtig, so zu denken, das wußte sie. So viel Durchblick besaß sie. Sie hatte als Kind aufgehört, sich für die Nahrung zu interessieren, weil die Mahlzeiten zum Synonym allzu großen Leidens geworden waren. Erdrückende Momente für ein kleines sensibles Einzelkind. Ein kleines Mädchen, allein mit seiner Mutter, die wie ein Schlot rauchte und einen Teller mit lieblos zubereitetem Essen auf den Tisch knallte: »Iß! Das ist gut für die Gesundheit!« fügte sie noch hinzu und steckte sich dabei eine Zigarette an. Allein mit ihren Eltern hielt sie den Kopf nach Möglichkeit gesenkt, um ihnen nicht ins Netz zu gehen: »Na, Camille, dein Papa fehlt dir, wenn er nicht da ist, stimmt’s?«
Danach war es zu spät. Sie hatte die Freude daran verloren. Irgendwann hatte ihre Mutter sowieso nicht mehr gekocht. Sie hatte sich einen Spatzenhunger zugezogen, wie andere Akne bekamen. Alle waren ihr damit auf den Geist gegangen, aber sie hatte sich gut aus der Affäre gezogen. Sie hatte sich nicht erwischen lassen, denn die Kleine war viel zu gerissen. Sie wollte an der kläglichen Welt der Großen nicht mehr teilhaben, aber wenn sie Hunger hatte, aß sie. Natürlich aß sie, sonst wäre sie heute nicht hier! Nur ohne die anderen. In ihrem Zimmer. Joghurts, Obst oder Müsli und tat etwas anderes nebenbei. Sie las, sie träumte, sie malte Pferde oder schrieb Liedertexte von Jean-Jacques Goldman ab.
Envole-moi.
Ja, sie kannte ihre Schwächen, und es war dumm von ihr, diejenigen zu verurteilen, die das Glück hatten, bei Tisch glücklich zu sein. Aber trotzdem … 220 Euro für eine einzige Mahlzeit, ohne Getränke, das war doch echt beknackt, oder?
Um Mitternacht wünschte ihnen der Chef ein frohes neues Jahr und schenkte allen ein Glas Champagner ein:
»Frohes neues Jahr, Mademoiselle, und danke für die Enten. Charles hat mir erzählt, die Gäste seien hin und weg gewesen. Ich hab’s gewußt, leider. Frohes neues Jahr, Monsieur Lestafier. Sollten Sie 2004 Ihren miesen Charakter etwas ändern, steigen Sie auf …«
»Wieviel gibt’s dann mehr, Chef?«
»Oh! Sie gehen aber ran! Sie steigen auf … in meiner Achtung!«
»Frohes neues Jahr, Camille. Wir … du … Gibt’s kein Küßchen?«
»Doch, doch, natürlich gibt’s ein Küßchen!«
»Und ich?« fragte Sébastien.
»Und ich?« fügte Marc hinzu. »He, Lestafier! Spring schnell zu deinem Klavier, dort läuft was über!«
»Ja klar, Herr Oberschlaumeier. Okay. Sie ist doch jetzt fertig, oder? Dann kann sie sich ja vielleicht mal setzen?«
»Sehr gute Idee, kommen Sie mit in mein Büro, Mademoiselle«, fügte der Chef hinzu.
»Nix da, ich will bis zum Schluß bleiben. Gibt es nicht noch irgendwas für mich zu tun?«
»Tja, jetzt warten wir nur noch auf den Konditor. Du kannst ihm beim Verzieren
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