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bloßen Willensakt nachhaltig verändern. 6 Darwins These war unter anderem eine Reaktion auf den Maler Charles Le Brun, der in seiner Conférence sur l’expression des passions (1698) behauptet hatte, Gebärden würden eher geschaffen als gefunden. 7 Wir könnten sagen, für Darwin reisten alte Reflexe mit den Instrumentenbauern, als sie die neue Werkstatt bezogen, während für Le Brun das Hinter-sich-Reichen der Schnittabfälle eine den veränderten Umständen geschuldete Neuschöpfung darstellte. Wäre Le Brun noch einen Schritt weiter gegangen, hätte er auch sagen können, die neuen Gesten bereicherten das Leben in der Werkstatt.
Die moderne Anthropologie stellt sich auf Le Bruns Seite und zeigt, dass die Kultur eine wichtige Rolle bei der Ausformung jener Gesten spielt, die Darwin für unwillkürliche Reflexe hielt. Bei den Bewohnern der Andamanen ist genau festgelegt, wann man zu weinen anfängt und wann man aufhört. In Korea trugen professionelle Klageweiber früher eine bestimmte Art von Kräutern auf dem Kopf und brachten ganz bestimmte Speisen mit, die sie auf einem besonderen Tischchen bereitstellten, wenn sie für eine Familie weinten und klagten. 8 Auch beim Lächeln gibt es kulturelle Unterschiede. Jean-Jacques Courtine und Claudine Haroche, zwei Historiker und Anthropologen des Lächelns, haben herausgefunden, dass die Maori im 18. Jahrhundert bei einer Todesnachricht lächelten, während wir im Westen gelernt haben, selbst dann ein trauriges Gesicht zu machen, wenn wir erfahren, dass eine entfernte Verwandte verstorben ist und uns ein Vermögen hinterlassen hat. Courtine und Haroche halten die Lippen tatsächlich für den kulturell flexibelsten Teil des menschlichen Körpers. 9
Wenn Gesten unter unserer Kontrolle stehen, wie können wir dann Geschicklichkeit darin entwickeln? Im Handwerk misst man dem Vormachen und Zuschauen oft größere Bedeutung bei als sprachlichen Anweisungen. Obwohl visuelles Denken sich häufig nicht in Worte fassen lässt, ist es dennoch Denken – etwa wenn wir Objekte im Geiste drehen oder Größe und Volumen naher und ferner Objekte abschätzen. Diese Art geistig-visueller Arbeit erlaubt es uns auch, etwas zu lernen, wenn ein anderer uns eine Geste vormacht. In einer Schreinerei kann man einem Neuling zeigen, wie man richtig sägt, indem man ihm ganz ohne Holz vormacht, wie man die Säge in der Hand hält und sie führt, so dass sie allein schon durch ihr Gewicht durch das Holz schneidet. Do-it-yourself-Anweisungen machen uns unvermeidlich wahnsinnig, wenn sie nicht die für die einzelnen Schritte erforderlichen Bewegungen demonstrieren. Wir müssen die Körperbewegungen sehen, um den Vorgang zu verstehen. Das Vormachen kommt außerdem selten ohne Sprache aus, denn der Lernende stellt sicher auch Fragen, aber das Vormachen kommt vor dem Erklären.
Außerdem können Gesten den Rhythmus des Herstellens verändern, indem sie Gewohnheiten aussetzen und umgestalten – das Schulterzucken zum Beispiel. Das Schulterzucken ist nach Ansicht des Psychologen Jürgen Streeck eine »Mischhandlung«, die ein »aktives Einlassen auf Dinge« aufschiebt. 10 Das kurze Heben der Schultern kann für einen anderen Menschen eine stumme Aufforderung sein, innezuhalten, zu zweifeln oder zumindest über sein Tun nachzudenken. Sowohl bevor eine Handlung sich als Gewohnheit eingeschliffen hat, als auch nachdem sie erweitert oder zu anderen hinzugefügt worden ist, wird der Rhythmus durch Gesten bestätigt, mit denen wir uns selbst und anderen signalisieren, dass wir Zutrauen zu unserem Tun haben.
Gesten sind schließlich auch Mittel, mit deren Hilfe wir Informelles erleben. Schon die Kluft zwischen Vormachen und Erklären kann eine Gebärde informell erscheinen lassen. Der physische Akt, den wir sehen, lässt sich nicht sauber in Worte fassen, er ist nicht so klar umrissen. Informelles ist mit einem leichten Bauchgefühl verbunden, im Unterschied zu den angespannten Bauchmuskeln oder der Kurzatmigkeit bei Angstgefühlen. Selbst beim Sprechen kann dieses Bauchgefühl eine Rolle spielen. So ist ein offenes Gespräch entspannter, angenehmer und sinnlicher in seinem Fluss als ein angestrengter Austausch von Argumenten. Doch das Gefühl des Informellen kann auch täuschen, wenn wir »informell« für dasselbe halten wie »formlos«. Die Gemeinwesenarbeiter in den Nachbarschaftsheimen wussten, dass dies nicht so war, als sie dem informellen Sprachunterricht und den Theateraufführungen eine
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