Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Eingriff, desto sensibler. Vesalius riet dem Chirurgen, da die Leber dem Messer größeren Widerstand entgegensetzt als das umliegende Gewebe, er solle »innehalten« und vorsichtig nachfühlen, bevor er weiterschneidet. Und auch der Musiker, dem eine Note oder ein Griff misslingt, erreicht durch Forcieren gar nichts. Er muss den Fehler als interessante Tatsache behandeln, dann wird er das Problem am Ende lösen. Dieses Rezept gilt sowohl für die Zeit als auch für die Einstellung. Wenn ein junger Musiker Stunde um Stunde übt, wird er nur müde werden, so dass er schließlich nur noch aggressiver und weniger fokussiert spielt. Eine Zen-Regel besagt, der geschickte Bogenschütze solle nicht darum kämpfen, das Ziel zu treffen. Vielmehr solle er das Ziel selbst studieren, dann werde die Treffsicherheit sich von selbst einstellen.
Durch den Einsatz minimaler Kraft gelingt es auch, sich mit einem Werkzeug vertraut zu machen. Beim Hämmern ist der Anfänger zunächst versucht, den Schlag unter Einsatz des ganzen Körpers auszuführen. Erfahrene Zimmerleute lassen das Gewicht des Hammers für sich arbeiten, statt die eigene Kraft von der Schulter abwärts einzusetzen. Sie haben ein inniges Verständnis des Werkzeugs entwickelt und wissen, wie sie es halten müssen, um mit einem minimalen Kraftaufwand auszukommen – sie fassen den Hammer leicht am Ende des Stiels, wobei sie den Daumen auf die Oberseite des Schafts legen. So können sie den Hammer die Arbeit für sich tun lassen.
In einer Hinsicht folgt der Einsatz minimaler Kraft einer Grundregel des Maschinenbaus. Im Blick auf einen möglichst geringen Energieverbrauch sorgt man dafür, dass in einer Maschine möglichst wenige Teile möglichst geringe Bewegungen ausführen. Auch die Ausdauer eines Musikers, Chirurgen oder Sportlers hängt von einem möglichst ökonomischen Einsatz der Bewegungen ab. Das aus dem Maschinenbau stammende Prinzip zielt darauf ab, Reibung zu vermeiden und dadurch den Widerstand zu verringern. Für den Handwerker wäre es allerdings kontraproduktiv, wenn er diese Regel unter allen Umständen befolgte. Die rätselhaften Bewegungen der Supernova von 1604 veranlassten Kepler, über die Bedeutung der Parallaxe nachzudenken, während die Astrologen sich der geistigen Zumutung mit magischen Mitteln entledigten. In der Geigenbauwerkstatt sagte mir ein besonders guter Zuschneider einmal: »Man lernt über weiches Holz immer noch etwas dazu, wenn man auf die Verwachsungen achtet.«
Besondere Bedeutung besitzt der Umgang mit Widerstand bei sozialem Verhalten dialogischen Charakters. Nur wenn wir nicht anmaßend oder allzu forsch auftreten, können wir uns für andere öffnen – das gilt für den politischen ebenso wie für den persönlichen Bereich. Totalitäre Bewegungen arbeiten nicht mit Widerständen. Auch im Krieg findet das Prinzip Anwendung. Napoleons präzise Taktik betonte die gezielte Massierung der Kräfte an bestimmten Punkten des Schlachtfelds, während der Blitzkrieg der Nazis an der Ostfront scheiterte, weil sie ihre Kräfte ohne besondere Schwerpunkte auf der gesamten Breite der Front einsetzten.
Auch beim Nullsummenspiel ist es erforderlich, dass die Konkurrenten nuanciert über Widerstand nachdenken. Es gehört zum Wesen der Konkurrenz, dass sie Widerstände auslöst, denn der Verlierer möchte natürlich nicht verlieren. Die Konkurrenz muss auch dem Verlierer einen gewissen Anteil überlassen. Wie Adam Smith darlegte, können Märkte, auf denen der Gewinner alles und der Verlierer nichts erhält (die ökonomische Entsprechung des Spitzenprädators in der Tierwelt), den Anreiz zerstören, sich überhaupt am Wettbewerb zu beteiligen. Bei Nullsummenspielen muss der Gewinner darauf achten, dass auch der Verlierer etwas bekommt, damit er überhaupt weiterspielt und der Austausch fortgesetzt wird. Darauf zu achten ist eine Form der Arbeit mit Widerständen auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Wettbewerbs.
Im dialogischen Bereich zeigt sich der Einsatz minimaler Kraft im differenzierenden Austausch. Ganz offensichtlich geschieht das im dialogischen Gespräch, in dem man es vermeidet, auf seiner Ansicht zu bestehen oder hart zu argumentieren, um die Sicht des Gesprächspartners genauer kennenzulernen. Die Aggressivität sprachlichen Ausdrucks minimiert man auch, indem man den Konjunktiv verwendet, ob im gewöhnlichen Gespräch oder im diplomatischen Austausch. Selbstironie im Sinne La Rochefoucaulds sorgt für ein psychisches
Weitere Kostenlose Bücher