Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
Vom Netzwerk:
den 1980er Jahren wurde die Technologie dieser Arme erheblich verbessert. Die Bäcker konnten die Brotlaibe damit nun während des Backvorgangs bearbeiten, das heißt wenden, strecken und einschneiden – mit dem unvorhergesehenen Ergebnis, dass man nun viele verschiedene Brotsorten gleichzeitig backen konnte.
    Bei radikalen Reparaturen dieser Art ist Improvisation das entscheidende Moment. Meist besteht sie aus kleinen, überraschenden Veränderungen, von denen sich später zeigt, dass sie doch größere Folgen haben. Die Improvisation liegt in der Erkundung der Zusammenhänge zwischen kleinen Reparaturen und deren großen Folgen. So war es etwa bei den auf Holbeins Gemälde dargestellten Navigationsinstrumenten. Dort führten kleine Veränderungen in der Herstellung und Bearbeitung von Metallen zur Entwicklung präziserer Messinstrumente, und in der Folge entdeckten Wissenschaftler, dass sie diese Instrumente für ganz neue Zwecke einsetzen konnten. Gerade eine unvollständige Spezifizierung ermöglicht den Umbau. Wenn nicht jedes Detail der Reparatur im Voraus festgelegt ist, gibt es mehr Raum für radikale Experimente.
    Improvisation und unvollständige Spezifizierung stellen die Verbindung zwischen dieser Art technischer Reparatur und radikalerem sozialem Experimentieren her. Die Nachbarschaftsheime in Chicago und die daran orientierte Gemeinwesenarbeit waren ganz bewusst unvollständig spezifiziert. Die Möglichkeit zur Improvisation sollte neue Formen der Kooperation entstehen lassen und zugleich das vorhandene Gefühl der Menschen stärken, fähig und kompetent zu sein. Die Kooperation in kleinen Dingen brachte diese Metamorphose in Gang. Die Gemeinschaften sollten ihre Reparatur selbst in die Hand nehmen, statt sich auf Reparaturfachleute zu verlassen.
    Gegner dieser Art von Reparatur oder Reform wenden ein, solche destabilisierenden Veränderungen schüfen zwar ein gutes Gefühl, hätten aber auch unerwünschte Folgen. Diesen Gegnern wird man zugutehalten müssen, dass dies im Bereich der Technik durchaus ein Problem darstellt. So zeigen sich solche unerwünschte Folgen sehr deutlich in Textprogrammen, die immer stärker vom eigentlichen Zweck des Schreibens ablenken, weil zahllose Warnhinweise und Vorschläge eingeblendet werden, die den Einsatz dieser Programme verlangsamen und ineffizient werden lassen. Zu solchen Effekten kommt es, wenn der Handwerker das eigentliche Problem vergisst, um das es bei seinen Umbauarbeiten ging.
    Diese Herausforderung stellt sich bei fast allen Reparaturarbeiten. Für den, der repariert, geht es darum, einen Defekt als Warnung wie auch als Chance zu begreifen. Wenn etwas kaputtgeht, müssen wir überlegen, was da kaputtgegangen ist, aber auch, was letztlich ganz in Ordnung war. Das gilt für Objekte, denen die Zeit zugesetzt hat, geradeso wie für Menschen. Sie sind Überlebende, die im Laufe ihres Lebens Schaden genommen haben, aber das heißt nicht unbedingt, dass sie auch schon zu Beginn ihres Lebenslaufs mangelhaft gewesen wären. Eine unangemessene Reparatur mag das Gefühl vermitteln, dass sich etwas verändert hat, opfert vielleicht aber den Wert der ursprünglichen Schöpfung.
    Bei britischen Bombenangriffen auf Berlin wurden 1943 das Dach und das zentrale Treppenhaus des archäologischen Museums der Stadt zerstört. Fünfzehn Monate später legte ein weiterer Angriff den Nordwestflügel des Gebäudes in Schutt und Asche. Die Schätze waren zwar vorher gerettet worden, aber das Gebäude blieb vierzig Jahre lang eine Ruine. 1980 lagen die großen Säulen immer noch in einem Hof verstreut, durch Löcher im Dach und durch die mit Brettern nur notdürftig verschlossenen Fensteröffnungen drang Regen ein. Die Wände waren überzogen von Maschinengewehreinschlägen – ein Zeugnis der heftigen Straßenkämpfe bei der Einnahme der Stadt durch die Russen Ende des Zweiten Weltkriegs.
    Mitte der 1980er Jahre begannen die Behörden der DDR das Gebäude durch Sicherungsarbeiten an den Fundamenten und den Bau eines Notdachs zu schützen. Nach der Wiedervereinigung der Stadt 1989 stand plötzlich mehr Geld für einen Wiederaufbau zur Verfügung, doch damit stellte sich auch eine entscheidende Frage: Wie sollte man diese beschädigte Ikone reparieren? Sollte man das Museum in der Form wiederaufbauen, die es bei seiner endgültigen Fertigstellung 1859 besessen hatte – ein riesiges, kompliziertes architektonisches Gewirr? Sollte man den Bau vollkommen abreißen und an seiner

Weitere Kostenlose Bücher