Zwei an Einem Tag
wie ihr Gesicht aussieht, wenn sie weint, deshalb wischt sie sich schnell mit dem Handrücken über die Augen, als das Geräusch aufhört, und lässt das Handy auf den Kleiderhaufen am Boden fallen.
»Alles klar?«
»Ach, du weißt schon. Eigentlich nicht. Er klang ziemlich betrunken.«
»Er ist bestimmt okay.«
»Nein, wirklich betrunken. Er klang seltsam. Vielleicht sollte ich nach Hause fahren.«
Callum bindet sich den Gürtel des Bademantels zu, kommt ins Zimmer, beugt sich vor und küsst sie auf die nackte Schulter.
»Wie gesagt, ich bin sicher, es geht ihm gut.« Als sie nicht antwortet, setzt er sich neben sie und küsst sie wieder. »Versuch es zu vergessen. Hab jetzt etwas Spaß. Willst du noch was trinken?«
»Nein.«
»Willst du dich hinlegen?«
»Nein, Callum!« Sie schüttelt seine Hand ab. »Lass das jetzt!«
Er verkneift sich eine Bemerkung, dreht sich um und geht zurück ins Bad, um sich die Zähne zu putzen, seine Hoffnungen für den Abend haben sich zerschlagen. Er hat das schreckliche Gefühl, sie wird darüber reden wollen – Es ist nicht fair, das geht so nicht weiter, vielleicht sollte ich es ihm sagen, der ganze Mist. Ich habe dem Typen schon einen Job besorgt, verdammt noch mal, denkt er empört. Reicht das denn nicht?
Er spuckt aus, spült, geht zurück ins Zimmer und wirft sich aufs Bett. Aufgebracht greift er nach der Fernbedienung und zappt durch das Kabelprogramm, während Mrs Sylvie Mayhew dasitzt, aus dem Fenster auf die Lichter entlang der Themse schaut und sich fragt, wie sie die ganze Sache mit ihrem Ehemann lösen soll.
KAPITEL FÜNFZEHN
Jean Seberg
Sonntag, 15. Juli 2001
Belleville, Paris
Er sollte am 15. Juli um 15:55 Uhr mit dem Zug aus Waterloo eintreffen.
Emma Morley kam rechtzeitig am Ankunftsgatter an der Gare du Nord an und reihte sich in die Menge ein, die nervösen Liebhaber, die Blumensträuße umklammert hielten, die gelangweilten Chauffeure in den verschwitzten Anzügen mit handgeschriebenen Schildern. Wäre es witzig, ein Schild mit Dexters Namen hochzuhalten?, fragte sie sich. Vielleicht, wenn sein Name falsch geschrieben wäre? Vielleicht brächte ihn das zum Lachen, aber war es die Mühe wert? Außerdem fuhr der Zug schon ein, die Menge drängte sich erwartungsvoll am Gatter. Nach einer halben Ewigkeit öffneten sich zischend die Türen, die Passagiere strömten auf den Bahnsteig, und Emma drängte sich mit all den Freunden, Familien, Liebhabern und Chauffeuren, die die Hälse reckten, um einen Blick nach vorne auf die Gesichter der Ankommenden zu werfen.
Sie setzte ein angemessenes Lächeln auf. Das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, waren Dinge gesagt worden. Das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, war etwas passiert.
Dexter saß im allerletzten Wagen des stehenden Zuges und wartete, während die anderen Passagiere ausstiegen. Er hatte keinen Koffer dabei, auf dem Platz neben ihm stand nur eine kleine Reisetasche. Vor ihm auf dem Tisch lag ein buntes Taschenbuch, auf dessen Einband unter dem Titel, Julie Criscoll die Große gegen den Rest der Welt , die krakelige Zeichnung eines Mädchengesichts zu sehen war.
Er hatte das Buch ausgelesen, als der Zug in die Pariser Vorstädte einfuhr. Es war seit Monaten der erste Roman, den er zu Ende gelesen hatte, allerdings wurde sein Stolz auf sein geistiges Durchhaltevermögen dadurch geschmälert, dass es ein Buch für Elf-bis Vierzehnjährige mit Bildern war. Während er darauf wartete, dass sich der Zug leerte, schlug er noch einmal die Innenseite des Einbands mit dem Schwarzweißfoto der Autorin auf und sah es sich ganz genau an, als wolle er sich ihr Gesicht einprägen. In einer teuer aussehenden, blütenweißen Bluse saß sie leicht unbehaglich auf der Kante eines Bugholzstuhls und hielt sich lachend die Hand vor den Mund. Er erkannte den Gesichtsausdruck und die Geste wieder, lächelte, deponierte das Buch in der Tasche, nahm sie und gesellte sich zu den letzten Passagieren, die darauf warteten, auszusteigen.
Beim letzen Mal, als sie sich gesehen hatte, waren Dinge gesagt worden. Etwas war passiert. Was würde er ihr sagen? Was würde sie antworten? Ja oder nein?
Während sie wartete, spielte sie mit ihrem Haar und wünschte sich, es wäre länger. Kurz nachdem sie in Paris angekommen war, hatte sie allen Mut zusammengenommen und war mit dem Wörterbuch in der Hand zu einem Friseur – un coiffeur – gegangen, um sich die Haare kurzschneiden zu lassen. Obwohl es ihr zu peinlich war,
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