Zwei an Einem Tag
das stimmte.
Ohne weiteres Zögern steckte Dexter den Brief in einen Luftpostumschlag und steckte ihn zwischen die Seiten von Howards End , gleich neben Emmas handgeschriebene Widmung. Dann machte er sich auf, um seine neuen holländischen Freundinnen zu treffen.
Kurz nach neun am gleichen Abend verließ Dexter die Bar mit Renee von Houten, einer Pharmaziestudentin mit verblassenden Henna-Tattoos auf den Händen, einem Döschen Schlaftabletten in der Tasche und einem schlampig ausgeführten Woody-Woodpecker-Tattoo knapp über dem Steiß. Er konnte sehen, wie der Vogel ihn lüstern anstierte, als er durch die Tür stolperte.
In ihrer Hast rempelten Dexter und seine neue Freundin versehentlich Heidi Schindler an, eine 23-jährige Studentin der Chemietechnik aus Köln. Heidi fluchte, allerdings auf Deutsch und so leise, dass sie es nicht hörten. Sie bahnte sich einen Weg durch die überfüllte Bar, stellte den riesigen Rucksack ab und suchte in dem Raum nach einem Plätzchen, auf dem sie zusammenbrechen konnte. Heidis Gesicht war rot und rund wie eine Reihe sich überlappender Kreise, eine Wirkung, die durch die runden Brillengläser noch betont wurde, die in der feuchtheißen Bar sofort beschlugen. Schlecht gelaunt, aufgedunsen von Anti-Durchfall-Kapseln und wütend auf ihre Freunde, die sich immer ohne sie verdrückten, ließ sie sich auf ein altersschwaches Rattansofa fallen und versank völlig in ihrem Elend. Sie nahm die beschlagene Brille ab, wischte sie mit einem Zipfel ihres T-Shirts ab und machte es sich auf dem Sofa bequem, als sie etwas Hartes in die Hüfte stach. Wieder fluchte sie leise.
Zwischen den zerfledderten Schaumstoffkissen lag eine Ausgabe von Howards End mit einem Brief zwischen den ersten Seiten. Obwohl er an jemand anders adressiert war, wurde sie beim Anblick der rot-weißen Umrandung des Luftpostumschlags von erwartungsvoller Vorfreude erfasst. Sie zog den Brief heraus, las ihn einmal, dann ein zweites Mal.
Heidis Englisch war nicht besonders gut, und ein paar Wörter waren ihr unbekannt – »Exkursivität« zum Beispiel, aber sie verstand genug, um zu erkennen, dass der Brief wichtig war, die Art von Brief, die sie selbst eines Tages zu bekommen hoffte. Nicht gerade ein Liebesbrief, aber fast. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie »Em« den Brief ein-, zweimal durchlas, aufgebracht, aber auch ein kleines bisschen erfreut, und sie malte sich aus, wie sie die Vorschläge befolgte, die schreckliche Wohnung und den Scheißjob hinter sich ließ und ihr Leben umkrempelte. Heidi stellte sich vor, wie Emma Morley, ihr selbst nicht unähnlich, am Taj Mahal wartet und sich ihr ein gutaussehender blonder Mann nähert. Heidi malte sich einen Kuss aus und fing an, sich besser zu fühlen. Emma Morley musste den Brief um jeden Preis bekommen, entschied Heidi.
Allerdings stand weder eine Adresse noch »Dexters« Absender auf dem Umschlag. Sie durchsuchte die Seiten nach Hinweisen, zum Beispiel der Name des Restaurants, wo Emma arbeitete, fand aber nichts Brauchbares. Heidi beschloss, an der Rezeption der Herberge gegenüber zu fragen. Etwas anderes blieb ihr schließlich nicht übrig.
Heidi Schindler heißt heute Heidi Klauss. Sie ist 41, lebt mit ihrem Mann und den vier Kindern in einem Vorort von Frankfurt und ist einigermaßen glücklich, zumindest glücklicher, als sie es sich mit 23 hätte träumen lassen. Im Regal ihres Gästezimmers steht, vergessen und ungelesen, die Taschenbuchausgabe von Howards End , und zwischen Einband und erster Seite steckt der Brief, direkt neben einer Widmung in kleiner ordentlicher Schrift:
Für Dexter, ein großartiger Roman für eine großartige Reise. Für eine gute Reise und eine sichere Heimkehr ohne Tattoos . Sei brav, wenigstens so brav wie möglich. Teufel, du wirst mir fehlen.
Alles Liebe, deine gute Freundin Emma,
London, April 1990
KAPITEL VIER
Gelegenheiten
Montag, 15. Juli 1991
Camden Town und Primrose Hill
»RUHE BITTE! Könnt ihr mal zuhören? Können mal alle ruhig sein? Klappe zu, Klappe zu, Klappe zu. Hallo? Bitte? Danke. Wenns geht, möchte ich gerne noch mal die Tageskarte durchgehen. Zuerst die sogenannten ›Tagesgerichte‹. Da hätten wir Zuckermaissuppe und eine Truthahn-Chimichanga.«
»Truthahn? Im Juli?«, rief Ian Whitehead von der Bar aus, wo er Limonen in Stücke schnitt, um sie auf Bierflaschenhälse zu stecken.
»Heute ist Montag«, fuhr Scott fort. »Es sollte schön ruhig sein, deshalb möchte ich alles blitzblank sauber
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