Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwei Frauen: Roman (German Edition)

Zwei Frauen: Roman (German Edition)

Titel: Zwei Frauen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Beate Hellmann
Vom Netzwerk:
nach etwas, was uns längst gefunden hat. – Vielleicht helfen dir diese Worte irgendwann einmal, wie sie mir schon so oft geholfen haben …«
    Wie versteinert saß ich da. »Wir Menschen suchen alle nach etwas, was uns längst gefunden hat.« Seit Monaten fütterte man mich mit ähnlichen weisen Worten, und deshalb war es mir auf Anhieb so vorgekommen, als wäre auch dieser Satz nur einer mehr in einer ohnehin schon reichhaltigen Sammlung. Aber nein … irgendetwas stand zwischen diesen Zeilen, schwebte über diesen Worten, umhüllte ihren Inhalt und war das Maß aller Dinge. Noch wusste ich nicht, was es war, doch beschäftigte es mich so sehr, dass ich das, was in den folgenden Stunden mit mir geschah, einfach geschehen ließ – ohne jeglichen Widerspruch.
    So ließ ich mich waschen und anziehen und sah seit langem erstmals wieder in den Spiegel.
    Das war ein besonders grausiges Erlebnis. Da ich in den vergangenen Wochen Raubbau mit meinem Körper betrieben und ihn damit auf lächerliche siebenundsechzig Pfund heruntergewirtschaftet hatte, konnte ich auf meinen Beinen kaum noch stehen und war auf einen Rollstuhl angewiesen. Und dann diese Flecken in meinem Gesicht, die riesigen Augen, die Glatze …!
    »Was denn?«, meinte mein Vater. »Die Glatze steht dir doch gut!«
    »Ja?«
    »Ja!«
    »Ich habe immer gedacht –«
    Mein Vater stöhnte laut auf. »Du hast gedacht!«, tönte er. »Lüg doch nicht, Eva, du hast doch noch nie gedacht. Damit musst du jetzt erst mal anfangen. Na ja, der Mann, der dich mal kriegt, der tut mir sowieso heute schon Leid.«
    »Ich krieg nie einen Mann«, fügte ich sogleich voller Selbstmitleid hinzu.
    »Das habe ich ja auch nicht gesagt, Eva. Nicht du kriegst ihn: Er kriegt dich.«
    »Bin ich denn so schlimm?«
    »Ja.«
    »Aber Ernst!«
    Mein Vater rollte die Augen und sah nunmehr meine Mutter strafend an.
    »Nun sag doch nicht immer ›aber Ernst‹ , wenn ich die Wahrheit sage«, witzelte er. »Oder würdest du deine Tochter etwa heiraten?«
    Diese Fröhlichkeit, die meine Eltern herauskehrten, machte mir alles sehr viel einfacher. Ich wusste schließlich noch nicht, wozu diese ganzen Aktivitäten gut sein sollten, und deshalb fielen mir erst mal nur die absoluten Nebensächlichkeiten auf. Die einzige Straßenkleidung, die an diesem Heiligabend 1976 noch in meinem Schrank hing, war die, die seinerzeit Schwester Bertas ganzen Zorn entflammt hatte. Jetzt hätte der Anblick wohl nur noch ihr Mitleid erregt, denn Hose und Pulli hingen wie Fremdkörper an meinen ausgezehrten Knochen.
    »Das machen wir passend!«, bestimmte meine Mutter und begann, mit Sicherheitsnadeln und Reihfäden so etwas wie figurbetonende Linie in den Stoffberg zu bringen. Dann wurde auch noch eine dicke Jacke darübergestülpt, und meine Glatze verschwand unter einem selbst gestrickten Angoramützchen.
    »Und jetzt?«, erkundigte ich mich. »Fahren wir nach Hause?«
    »Würdest du das denn wollen?«, stellte meine Mutter die Gegenfrage.
    »Nein.«
    »Also!«
    »Was dann?«
    »Wir gehen jetzt zum Gottesdienst!«
    Sofort machte sich Panik in mir breit, und ich konnte gar nicht so schnell reden, wie ich mich aufregte.
    »Das, das, das, das geht nicht«, stotterte ich, »so, so, so, so kann ich doch uuuuunmöglich unter die Menschen. Die, die, die erschrecken sich ja.«
    »Das ist anzunehmen«, gab mein Vater trocken zurück, »lass ihnen also das Vergnügen!«
    »Aber Papa!?«
    »Ja, mein Kind …?«
    »Mama!?«
    »Komm mein Kind!«
    Und damit hatte es sich dann auch schon.
    Draußen war es bitterkalt. Die Luft war feucht, und trotz der Dunkelheit sah man im Schein der Laternen auch jetzt noch jenen Dunstschleier, der bereits während des Tages über der Stadt gelegen hatte. Auf dem Klinikgelände herrschte nur wenig Betrieb. Hin und wieder sah ich in der Ferne eine Gestalt vorüberhuschen, und das gab mir die Hoffnung, in der Kapelle wären auch nur wenige Leute. Umso mehr erschrak ich, als ich den Menschenpulk sah, der sich vor der Kirche versammelt hatte.
    »Oh nein!«, stieß ich ängstlich aus.
    »Was?«
    »Die vielen Leute!«
    »Na und?«
    »Sie werden mich anstarren.«
    »Dann starr zurück!«
    Dieser kluge Rat meines Vaters war jedoch schwer in die Tat umzusetzen. Die fremden Menschen starrten mich noch wesentlich unverblümter an, als ich gefürchtet hatte. Ihre Blicke klebten förmlich an mir, und das beschämte mich, es bereitete mir körperliche Schmerzen.
    »Ich habe gesagt: Starr zurück!«, donnerte

Weitere Kostenlose Bücher