Zwei Frauen: Roman (German Edition)
um. Im Fernsehen lief nach wie vor die Aufzeichnung des abba-Konzerts. Mit leerem Blick starrte ich auf die stummen Bilder.
»Mensch, Evken, mach dat laut, ich will dat hörn, dat is geile Musik!«
Ausgerechnet jetzt war mir, als säße Claudia neben mir auf dem Fensterbrett und schrie mir das ins Ohr. Ich hörte es ganz deutlich, hörte jedes einzelne Wort ganz deutlich, und ich musste fast darüber lachen. Ja, Claudia Jacoby hatte abba fast ebenso sehr geliebt wie ihren Udo, und wenn sie in dieser Stunde nicht nur in meinen Gedanken, sondern auch körperlich bei mir gewesen wäre, so hätte sie den Ton des Fernsehapparates bestimmt bis zum Anschlag aufgedreht, das wusste ich. Wie ich wusste, dass sie sich in dieser Stunde mit mir gefreut hätte!
»Hab ich nich immer gesacht, datte dat packen kanns«, hätte sie gejubelt. »Has ebent en ganz andern Kopp wie ich.«
»Als ich, Claudia!«
»Sach ich doch, ganz anders als wie ich!«
Da spürte ich plötzlich, dass meine Augen feucht wurden. Ich sah noch, wie die blonde Agnetha auf dem Bildschirm zum Mikrofon griff und zu singen begann, und ich stürzte auf den Fernseher zu und drehte den Ton laut, lauter, immer lauter, so laut, dass er am Ende auch noch den allerletzten Himmel zu erreichen schien. Und dann hörte ich, was sie sang, die blonde Agnetha, hörte es für Claudia, vielleicht sogar mit ihr, hörte es nicht nur mit meinen Ohren, sondern auch mit meiner Seele:
»I’ve been so lucky.
I am the girl with golden hair.
I wanna sing it out to everybody.
What a joy!
What a life!
What a chance!
… Thank you for the music, the songs I’m singing …«
Es trieb mir einen eisigen Schauer über den Rücken, und eigentlich mochte ich es kaum glauben. Mir war, als sänge diese Frau das nur für mich, für mich allein. Ich war es, die Glück gehabt hatte, ich war dieses Mädchen mit dem goldenen Haar, ich war es, ich allein, die jedem in dieser Welt hätte ins Gesicht schreien mögen, was für eine Freude sie empfand, was für ein großartiges Leben Gott ihr geschenkt hatte, was für ein einmaliges Schicksal ihr widerfahren war. Ich war es, die dankbar war für all die Musik, die in mir war in dieser Stunde, für die Lieder, deren Melodien in mir klangen und die ich gesungen hatte, gerade sang und fortan singen wurde. Ich war es, die nach einem 5. März 1976 nun einen 2. Mai 1978 erleben durfte, ich hatte es geschafft, ich … und noch während ich das dachte, rannen mir endlich die Tränen über das Gesicht, erlösende Tränen, befreiende Tränen, Tränen einer neuen Zeit.
KAPITEL 35
2. Mai 1978, mein großer Tag: Es war so weit. Draußen lachte das herrlichste Sommerwetter, die Sonne schien, und der Himmel war blau; drinnen war alles bereit. Ich war angezogen, auf meinem Bett lag die Reisetasche, und auf einem der Stühle stand mein Kosmetikkoffer. Mit diesen zwei Gepäckstücken war ich vor über zwei Jahren hierher gekommen, mit diesen beiden Gepäckstücken wollte ich heute nun wieder von hier fortgehen …
Ich fühlte mich sonderbar, wie ein Kind, das auf eine Weltreise geschickt wird. Es war keine Angst in mir, das nicht, wohl aber ein banges Zittern, wie es sicher jeder vor großen und Ungewissen Abenteuern empfindet. Immerhin kehrte ich heim, und ich versuchte, mir vorzustellen, wie das wohl sein würde, wenn ich nun nach so langer Zeit erstmals wieder durch meine Stadt ginge. Bestimmt hatte sich in der Zwischenzeit vieles verändert. Ich wusste, dass sie eine Untergrundbahn gebaut hatten und dass diverse Wolkenkratzer aus dem Boden geschossen waren, dass gemütliche Parkanlagen riesigen Parkhäusern Platz gemacht hatten und dass gewisse kleine Geschäfte großen Ladenketten gewichen waren. Diese Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen war, würde mir also erst einmal eine Fremde sein. Zu lange hatte ich in einem ihrer Ghettos gelebt, zu lange war ich ein Teil von ihr gewesen, ohne dass sie ihrerseits ein Teil von mir gewesen war. Ich musste erst wieder lernen, eine Straße zu überqueren, inmitten vieler Menschen an Schaufenstern entlangzubummeln, in eines meiner alten Lieblingsgeschäfte zu gehen und mit den Verkäuferinnen zu plaudern.
»Meine Güte, wo waren Sie denn so lange?«, würden sie fragen. Und ich würde antworten: »Am anderen Ende der Welt!« – Und dann?
Nachdenklich lief ich durchs Zimmer, diese paar Quadratmeter Raum, die sechsundzwanzig Monate lang mein Zuhause gewesen waren.
»Wenn du denen da draußen die Wahrheit sagst
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