Zwei Frauen: Roman (German Edition)
diese Vermutungen wären auf seinem eigenen Mist gewachsen. In diesem Wahn schrieb er Claudia einen letzten Brief.
»Ich lasse mich nicht zum Narren halten«, hieß es. »Ich weiß jetzt, dass alles ein abgekartetes Spiel ist.«
Claudia verstand die Welt nicht mehr. Nach anfänglicher Sprachlosigkeit geriet sie außer Rand und Band und war einem Nervenzusammenbruch nahe. Ihre Wut war grenzenlos, aber es war auch sehr viel Enttäuschung in ihr, Verzweiflung, Angst. Diese Gefühle steigerten sich noch, als sich Inas Gesundheitszustand über Nacht so verschlechterte, dass sie in Zimmer 107 verlegt wurde.
»Jetz is et aus!«, sagte Claudia. Zum ersten Mal in all der Zeit sah ich Tränen in ihren Augen.
Zimmer 107 war das Sterbezimmer von S 1. Der Raum war wesentlich größer als die anderen und bot Platz für ein Krankenbett und zwei Liegen, sodass Angehörige auch über Nacht bleiben konnten. Trotz seines traurigen Zwecks hatte das Zimmer eine heimelige Atmosphäre. Nichts Fremdes oder Kaltes ging von diesem Ort aus, eher etwas Vertrauenswürdiges.
Ich sah diesen Ort erstmals aus der Nähe, als Claudia und ich Ina besuchen durften. Ihr Zustand hatte sich binnen weniger Stunden bedrohlich verschlechtert. Was ich erblickte, jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Da waren Schläuche, Kanülen, Katheter, tickende und rauschende Apparate, Infusionen, Transfusionen und ein ganz kleines bisschen Ina. Ihr ohnehin so schmales Gesichtchen war bis auf die Knochen eingefallen, und unter ihren glasig dreinblickenden Augen lagen pechschwarze Ringe. Sie wirkten wie Fremdkörper auf der durchsichtigen Haut.
Ina erkannte uns sofort und fing an zu weinen. Sie zitterte am ganzen Körper, rang nach Luft, schluchzte, … und immer nur das eine Wort: Bertram.
Ich war so erschüttert über dieses Bild des Elends, dass ich furchtsam zurückwich und mich in der Nähe der Tür niederließ. Claudia hatte solche Beklemmungen nicht. Sie setzte sich direkt neben Inas Bett, ergriff die Hand, die nicht von medizinischen Folterinstrumenten zerstochen war, und versuchte, das sterbende Mädchen zu beruhigen. Je sanfter Claudias Bemühungen wurden, desto mehr bäumte Ina sich gegen den Trost auf. Das mit anzusehen war eine Qual, und so war es kein Wunder, dass Claudia schließlich außer sich vor Wut und Verzweiflung aufsprang und auf den Gang hinausrannte. Dort krallte sie sich Doktor Behringer und erzählte ihm, was sich in den letzten Wochen zugetragen hatte. Behringer reagierte wie ein blutrünstiger Tiger. »Und der Junge weiß wirklich, wie es um Ina steht?«, vergewisserte er sich.
»Klar!«
»Ich brauche Namen und Adresse, sofort!!« Mit diesen Worten stürzte er ans Telefon und ging als personifiziertes Damoklesschwert auf Bertram Schuster nieder. Das war offenbar die einzige Sprache, die der verstand. Es geschah nämlich ein Wunder: Er machte sich auf den Weg.
Von da an versuchten wir mit vereinten Kräften, Ina auf das große Ereignis vorzubereiten. Bertram würde kommen und sie in die Arme nehmen. Er würde ihr sagen, wie sehr er sie geliebt hatte und wie wunderschön die gemeinsame Zeit gewesen war. Ina selbst konnte es gar nicht glauben. »Wirklich?«, fragte sie immer wieder.
»Wirklich!«
»Ich hab’ so lange gewartet …«
»Jetzt ist es bald so weit!«
»… so lange …!«
Kurz darauf erlitt sie einen schweren Blutsturz. Während Claudia an ihrem Bett Wache hielt, patrouillierte ich über die Gänge. In jeder Gestalt, die ich in der Ferne vorüberhuschen sah, glaubte ich, Bertram zu erkennen.
Es war Nacht geworden. Nur die Notbeleuchtung brannte noch. Sie warf ein gespenstisches Licht auf die Stühle und Tische.
Meine Schritte hallten dumpf auf dem gebohnerten Linoleum, und ihr Nachklang ließ mich ständig an einen finsteren Verfolger denken, sodass ich mir immer wieder ängstlich über die Schulter blickte. Ich ging in die Eingangshalle hinunter und beobachtete den Pförtner.
Auf dem Rückweg zur Station kam ich an Mennerts Büro vorbei. Ich hörte schon von weitem seine Stimme. Da blieb ich stehen und lauschte. »Ich kann das nicht länger verantworten«, hörte ich ihn schreien. »Wir pumpen dem Mädchen das Blut in die Venen, damit es an irgendeiner Stelle wieder herausläuft, das ist doch Quälerei!«
Dann sprach Behringer. »Ich weiß«, gab er kleinlaut zu, »aber Ina sehnt sich doch so sehr nach dem Jungen. Er ist vor drei Stunden losgefahren und müsste eigentlich längst hier sein –«
»Ist
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