Zwei Frauen: Roman (German Edition)
Zimmer quälte Ina in der Tat so sehr, dass sie meist von morgens bis abends draußen auf dem Gang hockte und dort ihre geheimnisvollen Fotos betrachtete.
Claudia wich kaum mehr von Inas Seite und redete ununterbrochen auf sie ein. Binnen kurzem flüchtete Ina freiwillig in Claudias Fänge und berichtete mit gesenktem Haupt und bebender Stimme über ihre Leiden.
Ina Peters hatte in ihren letzten Ferien am Strand von Djerba einen Studenten aus Tübingen kennen gelernt: Bertram Schuster. Die beiden gingen miteinander aus, sie gingen miteinander ins Bett, und nach den Ferien gingen sie wieder getrennte Wege. Eigentlich also nichts Besonderes – wenn Ina nicht so krank geworden wäre. Sie wusste nun, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, und deshalb wusste sie auch, dass die unbeschwerten Sommertage mit Bertram die schönsten ihres Lebens gewesen waren. Nur ein paar Fotos waren von dieser Liebe geblieben.
»Ich möchte Bertram noch einmal sehen«, flüsterte Ina, »noch ein einziges Mal, nur …«
Aber sie wusste nicht, wie sie dieses Wiedersehen arrangieren sollte, sie hatte nie mehr von Bertram gehört.
»Na und?«, befand Claudia. »Is doch ganz einfach! Da setzte dich hin und schreibs ihn en Brief und sachs ihn, wat Sache is. Und dann kommt er her und nimmt dich inne Arme, und allet is palletti, wie inne Love Story.«
Ina kamen sofort die Tränen. »Das kann ich nicht«, winselte sie, »da schäm’ ich mich.«
»Na, dann mach ich dat ebent für dich«, erwiderte Claudia. »Ich schreib dir wat vor, und du pinns ab. Okay?«
Ina senkte den Blick wie ein scheues Reh und nickte zaghaft.
Nach drei Tagen und drei Nächten präsentierte Claudia der traurigen Ina schließlich mit stolz geschwellter Brust den Brief.
»Findest du nicht, dass das zu schwülstig klingt?«, wandte Ina nach der Lektüre zaghaft ein.
Claudia war stocksauer. »Willse ihn nu wiedersehen oder nich?«
»Schon, aber …«
Zornig riss sie Ina das Papier aus der Hand und warf es mir zu. »Hier, Evken, lies du dat ma und dann sach, ob dat schwülstig is!«
Es passte mir gar nicht, als Zünglein an der Waage zu fungieren, aber mir blieb keine andere Wahl. Bereits nach den ersten paar Zeilen sträubten sich mir die Haare. Claudias Œuvre begann mit einem Spruch, den sie aus einem meiner Gedichtbände geklaut hatte:
»O lieb, solang du lieben kannst …
O lieb, solang du lieben magst …
Die Stunde kommt, die Stunde kommt …
Wo du an Gräbern stehst und klagst …«
Ich brach in schallendes Gelächter aus und las gar nicht erst weiter. Claudia nahm mir das verständlicherweise übel. Sie nahm mir den Brief aus der Hand, faltete ihn sorgsam zusammen und legte ihn unter ihr Kopfkissen.
»Dann macht eure Scheiße doch alleine!«, keifte sie, legte sich hin und sprach kein Wort mehr.
Ina sah mich derweil an und hoffte auf ein Patentrezept aus meinem Mund.
»Ruf den Bertram doch einfach mal an!«, schlug ich ihr vor. »Sei locker und frag ihn, ob er nicht Lust hätte, dich wiederzusehen.«
»Glaubst du denn, dass das klappt?«, fragte Ina ängstlich.
»Wenn du nicht sentimental wirst, bestimmt!«
»Ach wat!«, sprach Claudia von hinten ihr Wort zum Sonntag. »Der scheißt euch en dicken Haufen auf de Treppe.«
»Versuch es!«, ging ich über diesen Fäkaleinwand hinweg.
»Dat brauchse nich versuchen, dat klappt nich. Der hat die gebumst und abgehakt, dat nimmt er die übel, wenn se ihn so kommt.«
»Sie kann es doch wenigstens versuchen!«
Während Claudia und ich einander anbrüllten, brach Ina in Tränen aus. »Der Bertram hat mich nicht gebumst«, flennte sie, »er war der erste und einzige Mann, den ich je geliebt habe.«
Claudia stöhnte. »Und der letzte!«
Ina blieben die Tränen im Hals stecken. »Ich weiß«, stieß sie tonlos aus. »Deshalb würde ich ja auch alles geben, um ihn ein letztes Mal –«
»Wat willse denn noch geben, Schätzken, has ja nix mehr!«
Claudia hatte nie gelernt, gewisse Wahrheiten für sich zu behalten. Ihre Offenheit war grenzenlos, und die tiefe Betroffenheit, die ihre Bemerkungen auslösten, wurde ihr gar nicht bewusst.
»Schreib ihn den Brief« feuerte sie Ina gleich wieder an.
»Nein!«, rief ich aufgebracht. »Ruf ihn an, Ina!«
»Schreib ihn!«
»Ruf ihn an!«
Ina tat das einzig Gescheite: Sie floh.
»Ich überleg’ mir das«, ließ sie uns zum Abschied wissen. Dann bekamen wir sie zwei Tage nicht zu Gesicht.
Für mich wurde diese Bedenkzeit zur Qual, denn Claudia beschimpfte
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