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Zwei Frauen: Roman (German Edition)

Zwei Frauen: Roman (German Edition)

Titel: Zwei Frauen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Beate Hellmann
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weder Fragen noch Antworten gab. Dort war nichts greifbar, und doch war alles da, denn das Nichts schien das Leben, und der Tod das Alles zu sein. Er war mir plötzlich nah, dieser Tod, er war mir so nah, dass ich ihn mit jeder Faser meines Körpers spüren konnte. Das machte ihn auf eigentümliche Weise lebendig und nahm ihm jegliches Grauen. Er lockte mich mit schattenhaften Verführungskünsten, versprach mir Ruhe und Frieden, und er zeigte mir in meinen Fieberträumen den Weg in eine Endlosigkeit, die frei von irdischem Jammer war. Ich brauchte nur den entscheidenden Schritt zu tun, das ahnte ich, es galt, die Grenze zu überschreiten und einzuziehen in die Unendlichkeit des Universums, das fühlte ich, die Dinge des Todes waren für die Ewigkeit gebaut, das wusste ich … und doch hielten die Dinge des Lebens mich zurück. Ich wollte nicht, dass man mich in einen Waschraum schob wie Ina. Ich fürchtete mich davor, wie meine Oma Tati zu enden, ich wollte nicht wie sie in einer kalten Leichenhalle liegen und verbuddelt werden in einem finsteren Loch, mit Holz vernagelt und mit Blumen bedeckt.
    Am 11. September 1976 lagen die Ergebnisse der jüngsten Untersuchungen vor. Noch am gleichen Tag wurde Claudia wieder einmal zu völlig ungewohnter Zeit in die Badewanne verbannt. Kurz darauf kam Mennert zu mir.
    Er trug seinen Lieblingskittel, ein leicht angegrautes, ausgebeultes Exemplar, an dem mehrere Knöpfe fehlten.
    »Tja, Eva«, sagte er gedehnt, »mein liebes Kind …!«
    Mehr oder weniger ziellos lief er durch das Zimmer und setzte sich auf Claudias Bett. Er stibitzte sich eine ihrer Zigaretten, klemmte sie hinter sein Ohr, stand wieder auf, rückte die Gegenstände auf dem Nachttisch zurecht.
    »Die Chemotherapie hat leider nicht so angeschlagen, wie wir es gehofft hatten«, sagte er dabei. »Wir werden sie abbrechen.«
    Er zog die Zigarette wieder hinter seinem Ohr hervor und legte sie auf Claudias Nachttisch. Dann drehte er sich zu mir um und sah mich fest an.
    »Sie haben mich einmal gebeten, immer ehrlich zu Ihnen zu sein. Gilt das noch?«
    Ich war ganz ruhig, nur der Kloß in meinem Hals wurde dicker und dicker. Dennoch nickte ich artig.
    Mennert atmete tief, und dann setzte er sich zu mir auf die Bettkante.
    »Ihre Laborwerte verschlechtern sich täglich«, sagte er, »es ist anzunehmen … Sie müssen mit dem Schlimmsten rechnen.« Er sah mir tief in die Augen, als er das sagte, und ich spürte, wie viel Überwindung ihn das kostete. Mit dieser Ehrlichkeit hatte er sich auf mich eingelassen, er hatte sich vor mir entblößt und die ganze Hilflosigkeit eingestanden, die er gegenüber meinem Sterben empfand. Er war nun kein Herrgott im weißen Kittel mehr. Er war nur noch ein studierter Mann, der alles, was er studiert hatte, an mir erprobt und angewandt hatte, und trotzdem gescheitert war. Sein Wissen hatte nicht gereicht, das gab er zu, und dafür war ich ihm dankbar.
    Ich musste also mit dem Schlimmsten rechnen! Glauben konnte ich das nicht, und verstehen konnte ich es erst recht nicht, aber mir blieb ja gar nichts anderes übrig, als es zu glauben und zu verstehen.
    »Bald?«, fragte ich leise.
    »Sehr bald«, antwortete er leise.
    »Wie bald?«
    Langsam stand er auf und trat ans Fenster. »Wir haben heute ja mal ausnahmsweise einen richtig klaren Tag«, sagte er, »ist Ihnen das schon aufgefallen? In dieser Jahreszeit sind solche Tage rar. Wir sollten sie genießen. Der Winter kommt so schnell.«
    »Weihnachten?«, flüsterte ich.
    »Ja … eine gute Zeit … finden Sie nicht, Eva?«
    Ich blickte zu ihm auf und lächelte.
    Dabei spürte ich deutlich die Tränen, die über meine Wangen rannen. Es waren zwei Tränen, zwei Tränen für ein Leben, das nur noch wenige Wochen dauern sollte. Weihnachten würde es vorüber sein. Mennert seufzte. Es erfordert seitens des Arztes sehr viel Mut, dem Patienten Aufschluss über seine verbleibende Lebensdauer zu geben. Die meisten scheuen davor zurück und weichen aus. Mennert hatte es gewagt. Auch dafür war ich ihm dankbar.
    Aber ich konnte mich mit meiner Wahrheit nicht abfinden. Ich hatte nur noch dreieinhalb Monate zu leben, vierzehn Wochen, achtundneunzig Tage. Die Stunden und Minuten wagte ich mir gar nicht auszurechnen, die Zeit verrann mir unter den Händen. Immer deutlicher spürte ich, wie der Tod nach mir griff. Er versuchte, mich auf seine Seite zu ziehen, er drängte mich, seinen Einflüsterungen zu erliegen, und je mehr er mich drängte, desto größer

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