Zwei Frauen: Roman (German Edition)
hauchdünnen Fäden zusammengehalten wurde. Das war alles. Der Frauenmörder hatte mich verschont. Dafür war ich ihm ein Leben lang dankbar.
KAPITEL 16
Meine Freude über den geretteten Busen währte nicht lange. Wenn ich morgens aufwachte, spuckte ich Gift und Galle.
Professor Mennert beschwichtigte meine Angst, das könnten Nebenwirkungen der Chemotherapie sein, und sprach von »Vitaminmangel«, und dann, als ich bestialischen Ausschlag bekam, von »allergischen Reaktionen auf den Vitamin-B-Komplex«, den man mir in Spritzen verabreicht hatte. Ich erging mich in Selbstmitleid, las mehrmals am Tag Frau Grubers Abschiedsbrief, der mir zu bestätigen schien, dass mich niemand brauchte.
Dann bekam ich Atemnot. Sie überfiel mich ohne Vorwarnung, und sie umfasste mich wie der Tod. Von einem Augenblick auf den anderen war ich unfähig, Luft zu holen. Ich sperrte den Mund auf, versuchte mich aufzurichten, zu schreien, zu keuchen, und spürte dabei, wie meine Hände und Füße verkrampften und wie der fehlende Sauerstoff meine Haut erkalten und jeden einzelnen Nerv erzittern ließ …
Als das zum ersten Mal geschah, glaubte ich an eine Embolie. Als es jedoch immer häufiger passierte, wachte ich auf.
»Es ist also doch die Chemotherapie …!«
Professor Mennert nickte. »Ihre Laborwerte verschlechtern sich schon seit einiger Zeit«, sagte er. »Ich wollte es Ihnen nur nicht sagen. Mir schien, als wollten Sie es nicht wahrhaben.«
»Wenn es nun wieder so schlimm wird wie beim ersten Mal«, winselte ich, »das ertrage ich nicht. Ich hätte mich gar nicht erst darauf einlassen dürfen! Ich hätte es machen sollen wie Roswitha, dann ginge es mir jetzt sicher besser.«
Professor Mennert wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er tätschelte meine Hand und erklärte mir, ich müsste tapfer sein und durchhalten.
»Aber wieso denn?«, jammerte ich. »Wofür denn? Brechen Sie die Therapie lieber ab, bevor es schlimmer wird. Danach ging es mir beim letzten Mal ja auch gleich wieder gut. Bitte!«
Mennerts Züge verfinsterten sich. »Eva!«, sagte er mit ernster Stimme. »Sie brauchen die Chemotherapie, um zu überleben. Und Sie müssen nun alles tun, was in Ihrer Macht steht, um diese Chemotherapie zu überleben. Verstehen Sie mich?«
Damit hatte Mennert mich aus einem Dornröschenschlaf geweckt, in dem ich bislang süß geträumt hatte. Zum ersten Mal in all der Zeit verstand ich, worum es ging: Mein Leben und mein Tod waren nur mehr durch diese Chemie und ihre grauenhaften Begleiterscheinungen voneinander getrennt.
Diese Erkenntnis ließ völlig neue Kräfte in mir erwachen. Von Stund an schob ich alles Selbstmitleid beiseite und versuchte, sachlich mit meinem Zustand umzugehen. Wie hatte Frau Gruber es doch so trefflich ausgedrückt: »Gib das Leben nicht auf, bevor es dich aufgibt!« Daran wollte ich mich halten.
Einige Zeit ging das gut. Doch bekam ich Schmerzen. Es waren keine spezifischen Schmerzen, und deshalb nahm ich sie zu Anfang auch nicht sonderlich ernst. Zuerst erfassten sie meinen Bauch und meine Lungen, dann zogen sie in Arme und Beine, in den Kopf und in den Rücken, und schließlich waren sie überall. Da musste ich sie ernst nehmen. Mein ganzer Körper wurde zu einer Arena, in der sich blutrünstige Gemetzel abspielten. Täglich kamen neue Gefechte hinzu, und ich konnte es einfach nicht fassen.
Mein neuer Feind war maßlos und unberechenbar. Da gab es Schmerzen, die kamen und blieben. Zu Anfang war ich dann meist schockiert, weil ich nicht wusste, warum und woher sie kamen. Mit der Zeit gewöhnte ich mich aber daran, ich lernte, mit ihnen umzugehen, sie einzuschätzen und zu ertragen. Das wussten diese Bestien, und deshalb schickten sie ihre Untergrundkämpfer ins Feld. Das waren dann die Schmerzen, die kamen und gingen. Wie eine Naturkatastrophe fielen sie über mich her, und noch bevor ich mich auf sie hätte einstellen können, waren sie wieder fort, um beim nächsten Mal noch heftiger und noch unbarmherziger wiederzukommen.
Das trieb mich an den Rand des Wahnsinns, und es dauerte nicht lange, bis ich nur noch schrie. Ich schrie vor Angst, und ich schrie vor Schmerz, vor allem aber schrie ich aus Angst vor dem Schmerz, bis ich heiser war.
In dieser schweren Zeit war Claudia meine einzige Hilfe. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass es keine wirkliche Hilfe gab, und in diesem Bewusstsein tat sie die Dinge, die ein Außenstehender nie gewagt hätte. Stundenlang saß sie an meinem Bett. Wenn ich
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