Zwei Frauen: Roman (German Edition)
Entsetzen wiedergab, das ich empfand. An alles hatte ich gedacht, aber nie an die Möglichkeit, kahlköpfig zu werden. Ich hatte mir einfach niemals vorstellen können, dass mir das passieren würde – mir doch nicht. Schließlich hatte ich mein ganzes Leben der Schönheit geweiht. Ich war ein Teil gewesen von Tüll und Taft, von Gaze und Glitter, da konnte ich mein Haar doch nicht verlieren. Wie ein verwundetes Tier kroch ich unter die Bettdecke. Ich verschwand aus meinem Leben und flehte zu Gott, Er möchte mich an diesem Schmerz ersticken lassen.
»Lass mich sterben!«, wimmerte ich. »Lass mich sterben, hier und jetzt!«
Gott erhörte mich nicht. Er ließ mich am Leben, und Er ließ zu, dass ich in all meinem Jammer auch die Verunstaltung noch ertragen musste. Das konnte ich einfach nicht verstehen. Ich empfand es als Strafe dafür, dass ich so lange nicht gebetet hatte, und empfand es als eine viel zu hohe Strafe. Entsprechend verzweifelt bat ich um Vergebung. Tagelang rang ich die Hände und beschwor meinen Herrgott, Er möchte das Strafmaß überdenken, mich begnadigen, den Haarausfall vorzeitig zum Stillstand bringen.
»Wenn ich doch nun schon sterben muss«, kreischte ich unentwegt, »dann könnte Er mir doch wenigstens meine Haare lassen!«
Claudia nahm es gelassen hin. »Wat brauchse Haare inne Gruft?«, sagte sie nur. »Bleibt den Sarch ebent zu.«
Meine Eltern sahen es nicht ganz so lässig, hielten meinen Aufstand aber genau wie Claudia für völlig lächerlich.
»Sei doch froh, dass es dir besser geht!«, schimpfte mein Vater. »Und stell dich nicht so an!«
In der Tat hatte sich mein Gesundheitszustand seit meinem Geburtstag verbessert. Ich konnte wieder aufstehen, gehen, hatte wieder Appetit. Aber das alles schien mir jetzt wertlos.
Je mehr Vernunft man von mir verlangte, desto unvernünftiger führte ich mich auf. Für mich war dieser Haarausfall nun mal das Ende der Welt. So kauerte ich stundenlang schluchzend auf der Bettkante und zählte die Haare in meinem Kamm. Es waren Unmengen, und manchmal konnte ich kaum verstehen, wie ich bei diesen Unmengen überhaupt noch eine Fluse auf dem Kopf haben konnte. Morgens früh, wenn ich aufwachte, war mein Kopfkissen übersät von abgebrochenen Haarspitzen und im Schlaf entwurzelten Haarbüscheln.
»Warum hört das nicht auf?«, schrie ich Behringer eines Morgens bei der Visite an. »Tun Sie endlich was, damit das aufhört!!!«
Er lächelte nur. »Da kann man leider nichts tun, Eva, durch die Chemotherapie öffnen sich die Poren, und das einzelne Haar hat keinen Halt mehr. Das hatte ich Ihnen ja mehr oder minder vorausgesagt.«
»Jaaa!«, brüllte ich. »Sie haben es mir vorausgesagt, aber ich habe es Ihnen nicht geglaubt. Ich habe Ihnen ja auch nicht geglaubt, dass ich sterben würde.«
Behringer schluckte. »Eva …«
Flehentlich, mitleidig und enerviert zugleich klang dieses »Eva« aus seinem Mund, und das ärgerte mich so sehr, dass ich ins Badezimmer floh, um wieder mal mein Spiegelbild zu hypnotisieren und nach einem Ausweg zu suchen.
Dabei war mir absolut unklar, was für eine Art von Ausweg das sein sollte, denn dass mein Haar nicht zu retten war, hatte mittlerweile selbst ich begriffen. Trotzdem bildete ich mir ein, irgendetwas müsste ich tun können, weil man irgendetwas ja immer tun konnte. »Eva …«, sagte ich deshalb immer wieder zu mir selbst, und zwar ebenso flehentlich, mitleidig und enerviert, wie Doktor Behringer es gesagt hatte. Das half. Mir kam eine epochale Idee, die ich dann auch sogleich in die Tat umsetzte. Ich wusch mir meine restlichen Haare, drehte sie auf Lockenwickler und verpasste mir ein abenteuerliches Make-up.
»Wat denn nu?«, wollte Claudia verständlicherweise wissen.
»Warte ab!«
»Willse auf en Ball?«
»Du sollst abwarten!«
»Wat aufregend!«
Claudia setzte sich interessiert auf und zündete sich eine Zigarette an, ganz so, wie sie es sonst immer tat, wenn ein Krimi im Fernsehen lief und die Überführung des Täters unmittelbar bevorstand.
Ich setzte mich derweil auf die Bettkante und entfernte nacheinander die Lockenwickler. Ich hatte immer sehr viele Haare gehabt, und deshalb wirkten sie frisch gewaschen auch nach den erheblichen Verlusten noch dicht und füllig. Vorsichtig bürstete ich sie durch, bis sie in weichen Wellen auf meine Schultern fielen. Dann sog ich ihren Anblick gierig in mich auf und schwor mir, ihn niemals zu vergessen. So hatte ich einmal ausgesehen, genau so.
Claudia
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