Zwei Herzen im Winter
einen Schritt nach hinten und stieß mit den Fersen gegen den Fels. Talvas setzte die Miene eines Mannes auf, der bereit war, einen ganzen Tag auf die richtige Antwort zu warten. Der strenge Zug um seinen Mund, das stahlharte Funkeln seiner Augen – alles deutete auf einen Charakter hin, der nicht so leicht aufgeben würde.
Emmeline seufzte. „Ich reite nach Torigny.“ Sie verkroch sich in ihren dünnen Wollumhang.
„Auch wir reiten nach Torigny.“ Der Wind fuhr in seine dunklen Locken. „Welch ein Zufall, dass wir den gleichen Weg haben. Gestattet uns, Euch zu begleiten.“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, Mylord. Ich halte Euch nur auf. Lasst mich getrost meiner Wege ziehen.“ Verflixt! Wurde sie den lästigen Kerl denn nie los? Die Schmerzen in ihrem verletzten Fuß begannen unerträglich zu werden.
Er drohte ihr mit dem Finger. „Nein, Madame . Ihr seid zwar die unerträglichste und widerspenstigste Frau, der ich je begegnete – ein wahres Pech –, dennoch fühle ich mich für Euch verantwortlich.“
Emmeline schloss entnervt die Augen. Vielleicht war das alles nur ein böser Traum.
„Ja, Madame . “ Seine Stimme klang schneidend. „Es ist unsere Pflicht als Ritter, schutzlosen Frauen beizustehen, besonders jungen Witwen, denen ihre neu erworbene Freiheit offenbar zu Kopf gestiegen ist.“
Sein Spott machte sie nur noch wütender, sie lehnte sich Halt suchend an ihr Pferd. „Woher wisst Ihr, dass ich Witwe bin?“, fragte sie mit vor Entrüstung schriller Stimme.
„Ich habe nur geraten.“ Er lachte leise. „Was habt Ihr dem bedauernswerten Mann angetan? Ihn mit Eurer scharfen Zunge in den Wahnsinn getrieben?“ Beide Männer lachten wiehernd.
Emmeline presste die Lippen aufeinander. „Feine Ritter des Königreichs, wahrhaftig!“, höhnte sie. „Ich glaube Euch kein Wort. Und ich muss mir diese Unverschämtheiten nicht gefallen lassen … dieses rüpelhafte Benehmen. Lasst mich vorbei!“ Sie versuchte, den kräftigen Hengst mit ihrem Körpergewicht beiseite zu schieben. Talvas packte sie am Oberarm und stieß sie gegen die Flanke des Pferdes.
„Falls Ihr Wert auf gezierte und feine Lebensart legt, so seid Ihr bei mir an den Falschen geraten“, knurrte er. „Aber ich habe einen Eid auf ritterliche Tugenden geschworen. Und Ihr, junge Frau, vergeudet unsere Zeit mit Eurem Geschwätz.“ Ohne Vorwarnung beugte er sich weit aus dem Sattel, umfing ihre schmale Mitte und hob sie schwungvoll in den Sattel ihres Pferdes. „Ihr kommt mit uns, und das ist ein Befehl!“
4. KAPITEL
Empört über den rüden Ton, den Lord Talvas ihr gegenüber anschlug, setzte Emmeline ihr Pferd in Bewegung. Den Blick auf den Kopf der Stute gerichtet, versuchte sie sich zu beruhigen. Wie konnte dieser Grobian es wagen, sie wie einen Sack Rüben in den Sattel zu werfen? Seine hochfahrende Art beschwor Erinnerungen an ihren Ehemann herauf. Nie würde sie vergessen, was sie in ihrer Ehe mit Giffard gelitten hatte: Zwei Jahre der Verhöhnungen und Beschimpfungen, der Fußtritte und Prügel. Sie ertrug diese Demütigungen ihrer Mutter zuliebe, da Giffard Geld in die Familie gebracht hatte, Geld, das sie in den ersten mageren Jahren nach dem Tod ihres Vaters dringend nötig gehabt hatten. Aber Giffard trank immer maßloser, je öfter sie versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen und sein Bett zu meiden, bis er sie eines Tages die Treppe hinunterstieß. Im Sturz hatte sie sich den Fuß mehrmals gebrochen, er aber ließ sie tagelang im Haus eingesperrt, ohne den Bruch von einem Arzt versorgen zu lassen. Sie litt furchtbare Schmerzen, bis die Knochen endlich geheilt waren. Ein leichtes Hinken hatte sie jedoch von dem Sturz zurückbehalten.
Ihre Leidenszeit nahm ein Ende, als wenige Wochen später Jäger Giffards Leichnam ins Haus brachten und in der Küche aufbahrten, eine Ehre, die er nicht verdient hatte. An diesem Tage hatte Emmeline sich geschworen, sich nie wieder von irgendeinem Menschen demütigen und Vorschriften machen zu lassen. Dieser Lord Talvas, dieser hünenhafte Fremdling, der sich bedrohlich vor ihr aufgebaut und sie unverschämt gemustert hatte, benahm sich genau wie damals Giffard. Sie konnte sich kaum entsinnen, wann ein Mann sie zum letzten Mal angefasst hatte, doch dieser Rohling schien es sich zur Gewohnheit zu machen, sie grob anzupacken, als wolle er ihr seine körperliche Überlegenheit beweisen. Ein anmaßender tyrannischer Mensch, der offenbar stets seinen Willen durchsetzte. Und
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