Zwei Herzen im Winter
dennoch … hier endete die Ähnlichkeit. Giffard war untersetzt gewesen, kaum größer als sie, neigte zur Dickleibigkeit und hatte seine feisten Hände ständig zu Fäusten geballt. Noch lange nach seinem Tod verfolgten sie seine plumpen Annäherungen in Albträumen, wenn er sie mit feuchten Händen betatschte, ihr mit seinem teigigen Gesicht näherkam und sein säuerlicher Branntweingeruch ihr Übelkeit verursachte. Sie verdrängte die ekelhaften Erinnerungen und zwang sich, in der Gegenwart zu bleiben, starrte auf den aufgeweichten Pfad und horchte auf das Plätschern des Flusses. Sie musste die Bilder an diese grauenvolle Zeit vergessen, als sie sich unter Giffards Faustschlägen ducken musste und sich häufig wegen der Blutergüsse am ganzen Körper tagelang kaum bewegen konnte, an eine Zeit, in der sie täglich um ihr Leben gebangt hatte. So etwas würde sie nie wieder zulassen.
Emmeline ritt hinter Lord Talvas, versunken in ihren düsteren Gedanken, und Guillame bildete die Nachhut auf dem schmalen Uferweg. Graue Wolken hingen tief am Himmel, gelegentlich fielen ein paar Regentropfen, und Emmeline hoffte inständig, dass sie Torigny erreichten, bevor die Schleusen des Himmels sich öffneten und der Regen sie bis auf die Haut durchnässte. Immer wieder rief sie sich den Grund dieser beschwerlichen Reise in Erinnerung, die sie nicht nur für sich selbst unternahm und den erhofften Gewinn, sondern auch für ihre Schwester Sylvie, die sich offenbar in großen Nöten befand.
Talvas duckte sich unter einem tief hängenden Ast, dennoch streifte er ihn, sodass sein Rücken hinterher mit glitzernden Regentropfen benetzt war. Emmeline betrachtete zerstreut seinen sehnigen Nacken unter der Krempe seines Hutes, bevor sie sich zwang, den Blick von seinen breiten Schultern zu wenden. Wieso drängte dieser Mann, dem sie erst am Tag zuvor begegnet war, sich so dreist in ihr Leben?
Nach einiger Zeit erreichten die drei Reiter eine Stelle, wo die Böschung flach zum Flussufer führte. Talvas hob den Arm und drehte sich im Sattel um.
„Hier machen wir Rast“, rief er nach hinten, „und tränken die Pferde.“
„Und ich hab einen Bärenhunger“, fügte Guillame hinzu, lenkte sein Pferd ans flache grasbewachsene Ufer und sprang aus dem Sattel. Von diesem löste er den Ledergurt eines Beutels und holte zwei in Tücher gewickelte Bündel heraus. „Die Herbergswirtin hat uns eine kräftige Wegzehrung eingepackt.“ Er warf Talvas ein Bündel zu, das dieser geschickt auffing. Emmeline lenkte ihre Stute ans Ufer, um sie trinken zu lassen. Der freundschaftliche Umgangston der beiden machte sie irgendwie verlegen. Obwohl sie mit Männern Geschäfte machte und Verhandlungen führte, fühlte sich in ihrer Gegenwart befangen. Sie ließ die Zügel los, als Talvas neben sie trat, seine breiten Schultern in Höhe ihres Knies.
„Kann ich Euch behilflich sein?“, fragte er unerwartet höflich.
Sie blickte verdutzt zu ihm hinunter, nicht daran gewöhnt, Hilfe von Männern anzunehmen. „Nun … ich …“, stammelte sie. Seine Nähe, sein markantes Gesicht, all das machte sie befangen. „Nein, ich komme zurecht.“ Sie sprang aus dem Sattel, um zu verhindern, dass er sie noch einmal anfasste. Talvas neigte den Kopf seitlich und betrachtete sie mit einem spöttischen Lächeln.
In ihrer Hast vergaß sie, das Gewicht auf den gesunden Fuß zu verlagern, ein stechender Schmerz schoss ihr in den schlecht verheilten Knöchel und zwang sie in die Knie.
„Ruhig Blut“, murmelte Talvas. Rasch fasste er sie am Ellbogen und half ihr auf. „Habt Ihr Schmerzen, Madame? Seid Ihr verletzt?“ Er bückte sich, hob den Saum ihres Bliauts und entblößte schlanke Waden in braunen wollenen Beinlingen.
Emmeline versuchte, ganz erschrocken, seine Hand wegzuschieben. „Nehmt Eure Hände von mir!“, befahl sie entrüstet. „Wie könnt Ihr es wagen! Ich bin nur etwas ungeschickt aufgekommen, mehr nicht.“ Sie hasste seine Besorgnis, seine Nähe war ihr zu aufdringlich und unangenehm. Er roch nach Meer. Der würzige Geruch nach Salz und Tang ließ sie an die endlose Weite des Ozeans denken und an das Rauschen der Brandung.
Guillame hatte bereits seinen Umhang auf dem Gras ausgebreitet und legte darauf knuspriges Brot, cremigen Käse und gebratene Hühnerschenkel. Emmeline lief das Wasser im Mund zusammen.
„Habt Ihr eine Wegzehrung mitgebracht?“, fragte Talvas, der sich wieder aufrichtete. „Oder darf ich Euch etwas von unserem Mahl
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