Zwei Herzen im Winter
benommen. Ein befremdliches Sehnen keimte in ihr auf. Was war nur los mit ihr?
„Warum tut Ihr mir das an?“, flüsterte sie. Ihr Herz klopfte bang, die Knie wurden ihr weich. Er stand keine Handbreit von ihr entfernt, und dennoch konnte sie sein Gesicht nicht sehen.
„Weil Ihr eine Gefahr für Euch selbst seid, Madame. Ihr seid eine Frau, Euch fehlt die körperliche Kraft, um Euch allein in einer rauen Männerwelt zu behaupten.“ Unvermutet schoss ihm ein Bild durch den Sinn, wie sie sich anmutig aus dem Bad erhoben und ihre Nacktheit mit dem weißen Tuch verhüllt hatte.
„Dazu bin ich seit dem Tod meines Vaters gezwungen.“ Das Amulett an ihrem Hals kühlte ihre erhitzte Haut.
„Soll ich es Euch beweisen?“ Wie unter einem Bann hob er die Hand und strich mit den Fingerkuppen über ihre samtweiche Wange.
„Ich …“ Sie war zu keinem klaren Gedanken fähig, als seine großen Hände sich um ihr herzförmiges Gesicht wölbten. Sein Mund streifte ihre Lippen in einem flüchtigen Kuss, allein in der Absicht, ihr eine Lektion zu erteilen, ihr ihre Schutzlosigkeit vor Augen zu führen. Doch bei der flüchtigen Berührung ihrer Lippen ergriff ihn ein machtvolles Verlangen, ihren schlanken Körper an sich zu pressen, ihre verlockenden Rundungen zu spüren, sie zu erobern. Dieses Verlangen drohte all seine mühsam errichteten Schutzmauern einzureißen.
Er wich jäh zurück.
Seiner Wärme beraubt, starrte Emmeline verwirrt auf seinen Schatten. Wie konnte sie nur zulassen, dass er sie küsste? Hatte sie denn nichts aus ihrer verhassten Ehe mit Giffard gelernt? Alle Männer wollten Frauen beherrschen und unterdrücken. Das würde sie niemals wieder zulassen. Heiße Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen, als sie nach dem Türriegel tastete, um zu fliehen. Ihre Hand fand den Riegel im gleichen Moment wie seine. Einen flüchtigen Augenblick verschränkten sich ihre Finger ineinander, seine kraftvoll und kühl, ihre feingliedrig und warm. Sie entriss ihm ihre Hand, als wäre sie von einer Schlange gebissen worden.
„Tut so etwas nie wieder, nie wieder!“, flüsterte sie in tödlicher Entschlossenheit.
Er riss die Tür auf. Der Lichtschein aus der Großen Halle tauchte sein Gesicht in kontrastreiches Hell und Dunkel. Sein Profil wirkte wie aus Stein gemeißelt, sein Mund ein grimmiger schmaler Strich, seine Augen funkelten kalt.
„Das ist ein Versprechen.“
6. KAPITEL
Verführerischer Geruch nach gebratenem Schwein, würzig süßes Aroma des starken Honigweins und beißender Rauch erfüllten die Halle. Aus dem mannshohen Kamin in der Mauer einer Stirnseite quollen Rauchwolken, die sich in dem hohen Raum verteilten wie Nebelschwaden und der Szenerie etwas traumhaft Unwirkliches verliehen. An langen Tischen saßen dicht gedrängt Gesinde und Lehnbauern der Umgebung, die dem Festmahl mit großem Appetit zusprachen und sich lärmend und lachend unterhielten. Junge Ritter und Knappen, die dem Gemahl der Kaiserin, dem Comte de Anjou, die Treue geschworen hatten, saßen zwanglos neben einfachem Volk.
Von ihrem Ehrenplatz in der Mitte der Hochtafel ließ Maud ihren hoheitsvollen Blick über ihre Untertanen schweifen, den Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Gelegentlich richtete sie das Wort an Robert zu ihrer Rechten, der aufmerksam lauschte und beflissen nickte. Auf seiner linken Wange zeichnete sich ein dunkelroter Fleck ab. Bei seinem Anblick krampfte sich Emmelines Magen zusammen in Erinnerung an die grässlichen Drohungen, die er ihr nachgeschrien hatte, und sie fragte sich, welche Erklärung er für das Brandmal vorgebracht hatte. Würde der leidige Zwischenfall ihre Chancen zunichte machen, mit Maud nach England zu reisen?
Lord Talvas, der neben Emmeline saß, spießte ein saftiges Bratenstück mit seinem kurzen Jagdmesser auf, dessen juwelenbesetztes Heft im Kerzenlicht funkelte. Seit er sie nach der heimlichen Begegnung in der Abstellkammer unsanft am Arm gepackt und in die Halle geführt hatte, würdigte er sie keines Blickes und saß mit verschlossener Miene neben ihr.
„Was ist eigentlich zwischen euch vorgefallen?“ Seine unvermutete Frage und sein scharfer Ton erschreckten Emmeline. Dabei wies er mit der Klinge zu Earl Robert hinüber, der gottlob weit entfernt saß.
„Ich habe ihm die brennende Fackel ins Gesicht gestoßen“, antwortete sie wahrheitsgetreu und rückte unmerklich ab, als Talvas’ Ellbogen ihren Ärmel streifte.
Er zog die Brauen hoch. „Habt Ihr eigentlich
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