Zwei Herzen im Winter
grässlichen Todesschreie aus ihrem Gedächtnis zu bannen.
Düster blickte sie über die schwarzen Schatten der Häuser aufs Meer hinaus, das im Schein des Vollmonds silbern glänzte. Die Umrisse ihres Schiffes konnte sie nicht erkennen, wusste aber, dass die Belle Saumur fest vertäut in der Hafeneinfahrt lag. Im Wissen, dass sie keinen Schlaf mehr finden würde, schloss sie den Fensterladen und schob den Riegel vor. Es drängte sie unwiderstehlich, sich mit dem Schiff vertraut zu machen, bevor sie nach England reiste. Seit dem tragischen Tod ihres geliebten Vaters hatte sie nie wieder gewagt, einen Fuß auf ein großes Schiff zu setzen. Nun galt es, dieses Grauen zu überwinden.
Zuunterst in der Truhe fand sie die alten modrigen Kleider ihres Vaters: graue weite Wollhosen, ein zerknittertes Leinenhemd und einen zerschlissenen Wollkittel. Hastig schlüpfte sie in die Männersachen, zog ihre derben Lederstiefel an, steckte ihr geflochtenes Haar unter einen breitkrempigen Hut, befestigte ihn mit dem dünnen Lederriemen unterm Kinn und huschte aus dem Haus.
Am Hafen schob sie ein kleines Ruderboot über den knirschenden Schotter, rutschte, behindert durch ihren verletzten Fuß, immer wieder auf den glatten Steinen aus, bis das Boot endlich Wasser unter dem flachen Kiel hatte. Mit einer letzten großen Anstrengung stieß sie den Kahn ab. Als das Boot auf den Wellen schaukelte, warf sie sich auf die Bank und steckte die Ruder in die Eisenhalterungen. Danach zog sie die Ruderblätter kraftvoll durchs Wasser.
Sie ruderte ohne Hast, der gleichmäßige Rhythmus der Schläge, das Strecken ihrer Muskeln in Armen und Rücken bestärkten sie in ihrem Vorhaben. Immer wieder drehte sie ihren Kopf, um sich zu vergewissern, dass sie sich dem aufragenden Schatten ihres Schiffes näherte.
Bald stieß das Ruderboot sanft gegen den hohen Schiffsrumpf. Emmeline griff nach den ausgefransten Enden der Strickleiter. Den Kahn band sie an einem verrosteten Eisenring fest, legte die Ruder ins Boot und schaute ängstlich den bauchigen Schiffsrumpf hinauf, der sich über ihr auftürmte. Das sanfte Schlagen der Strickleiter gegen den Schiffsbauch schien sie zu ermutigen. Mit zusammengebissenen Zähnen und durchgestreckten Armen hängte sie sich an die Leiter und suchte mit den Füßen Halt. Die Holzsprossen spürte sie durch ihre Sohlen hindurch, die Leiter schwankte unter ihrem Gewicht. Verbissen griff sie höher und kletterte mühsam Sprosse um Sprosse hinauf, bis sie den Handlauf erreichte und sich aufs Deck fallen ließ.
Emmeline kauerte keuchend vor Erschöpfung auf den Planken. Mit ihrem schlecht verheilten Fuß bereitete ihr jede körperliche Anstrengung große Mühe. Wieder einmal verwünschte sie Giffard. Diesen Unhold, dessen Misshandlungen sie zwei unendlich lange Jahre ertragen musste! Ihre gehetzten Atemzüge machten sie taub für jedes andere Geräusch. Mit klopfendem Herzen zog sie sich am glatten Handlauf der Bordwand hoch und hielt sich mit geschlossenen Augen krampfhaft daran fest, um sich an das leichte Schwanken und das leise Knarren der Schiffsplanken und Taue zu gewöhnen. Irgendwann öffnete sie die Augen und blickte unstet umher, nahm die Schiffseinrichtungen wahr, die ihr zu Lebzeiten ihres Vaters so vertraut waren. Gütiger Himmel, wie sehr hatte ihr das alles gefehlt! Der sanfte Wellenschlag gegen den Schiffsrumpf, der umgelegte Hauptmast, das sorgfältig aufgerollte und vertäute Segel, der schwach säuerliche Geruch nach Wein, vor langer Zeit im Frachtraum ausgelaufen, der Geruch nach Leinöl, Lauge und altem Holz, all das erinnerte sie schmerzlich an ihre Kindertage, die sie auf diesem Schiff verbracht hatte. Damals hatte sie den Seeleuten ihres Vaters geholfen, die Taue aufzurollen und das Deck zu putzen. Mit offenem Mund hatte sie ihrem Vater gelauscht, wenn er, über seine handgezeichneten Seekarten gebeugt, mit seinem Bootsführer die Wetterlage und drohende Stürme erörterte und von fremden, märchenhaften Ländern erzählte. Gefangen in ihren Erinnerungen, tastete sie nach dem Amulett an ihrem Hals.
Ein winziges Geräusch, ein Kratzen, riss sie aus ihren Träumereien, etwas, das nicht zu den Geräuschen des Schiffes passte. Emmeline klammerte sich an den Handlauf, verharrte reglos vor Furcht, ihr Blick flog gehetzt über das Deck. Der helle Schein des Vollmonds beleuchtete jeden Winkel. Dann hörte sie es wieder – ein leises Klicken, ein unterdrückter Fluch und das dumpfe Fallen eines Gegenstands.
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