Zwei Herzen im Winter
Ihr Magen krampfte sich zusammen, Übelkeit drohte ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Die Schauergeschichten von Monsieur Lecherche, der immer wieder von Dieben berichtete, die Handelsschiffe entlang der Küste ausraubten, standen ihr plötzlich in aller Deutlichkeit vor Augen. Eiskalte Mörder, denen ein Menschenleben nichts bedeutete, nur um an die kostbare Fracht zu gelangen. Aber auf Lecherche war absoluter Verlass, er hätte niemals wertvolle Fracht an Bord gelassen.
In diesem Moment bemerkte Emmeline die offene Klappe mittschiffs. Unten im Frachtraum bewegte sich ein Schatten auf die Leiter zu. Ohne zu überlegen, stürmte sie los und stieß die Klappe mit ihrem gesunden Fuß zu, hörte kaum den unterdrückten Fluch von unten, als sie floh und instinktiv den Taurollen auswich. Hinter ihr flog die Klappe krachend auf, als der Mond hinter einer Wolke verschwand und das Schiff in Dunkelheit hüllte. Verzweifelt tastete sie nach der Strickleiter, ohne sie in ihrer Todesangst zu finden.
„Komm her, du Wurm!“, donnerte eine wütende Männerstimme hinter ihr. Emmeline brach der Schweiß aus. Die schweren Stiefelschritte näherten sich bedrohlich. Sie wollte sich um keinen Preis die Kehle von einem Räuber aufschlitzen lassen. Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter und dann …
… stürzte der Verfolger fluchend hinter ihr zu Boden, offenbar war er über eine Taurolle gestolpert. Bevor der Räuber sich aufraffen konnte, schwang Emmeline sich über die Bordwand und sprang mit den Füßen voran in das eiskalte schwarze Meer.
Als die Wellen über ihr zusammenschlugen, dankte sie ihrem Vater, ihr als Kind das Schwimmen beigebracht zu haben. Mit kräftigen Bewegungen der Beine stieß sie sich nach oben und tauchte vorsichtig auf, um ihre Position nicht zu verraten. Wassertretend schaute sie sich um und wischte sich das brennende Salzwasser aus den Augen. Die Belle Saumur , schaukelte keine zehn Fuß entfernt in den Wellen. Aber wo war der Schurke? Lautlos schwamm Emmeline zur Leeseite des Schiffes, wo das Licht des Mondes, der sich wieder zeigte, nicht hinreichte, und hielt Ausschau nach dem Ruderboot, um ihrem Verfolger zu entkommen, der sie mit Sicherheit töten würde. Die Kälte des Wassers drang ihr bis in die Knochen, während sie schwamm und gelegentlich mit den Fingern nach dem Schiffsrumpf tastete. Es war so dunkel, dass sie die Hand vor Augen kaum sah, und beinahe hätte sie vor Schreck aufgeschrien, als ihre Hand den Kahn berührte. Erleichtert zog sie sich am Bootsrand hoch. Die Kälte begann bereits, ihre Arme und Beine zu lähmen.
„Hab ich dich!“ Große Hände versuchten ihre Finger zu packen. Wieso hatte sie nicht bemerkt, dass der Verfolger ins Ruderboot geklettert war? In Todesangst riss sie ihre Hände zurück, stieß sich mit den Füßen ab und schwamm mit kraftvollen Stößen rückwärts davon. Sie hörte einen unterdrückten Fluch und das Quietschen des rostigen Eisenrings, als die Leine gelöst wurde. Der Bösewicht durfte sie nicht sehen, also tauchte sie unter und entledigte sich der schweren und damit hinderlichen Stiefel. An Land zu schwimmen war ihre einzige Rettung, der Küstenstreifen war nicht weit entfernt. Außerdem war sie eine gute Schwimmerin. Mit etwas Glück würde er sie nicht entdecken, solange sie sich nicht umdrehte und er ihr helles Gesicht sah.
Als geübte Schwimmerin war sie mit ihrem verletzten Fuß im Salzwasser weitaus schneller und wendiger als an Land. Beim Schwimmen fühlte sie sich wieder gesund und beweglich, zurückversetzt in eine glückliche Zeit vor ihrer Ehe mit Giffard, in eine Zeit, als ihr Vater noch lebte. Trotz der beißenden Kälte genoss sie die Leichtigkeit ihres Körpers. Die Angst, dass der Verfolger sie jagen könnte, verlieh ihr zusätzliche Kräfte. Sie schwamm um ihr Leben. Die wenigen Lichter von Barfleur wiesen ihr die Richtung, bald sah sie auch die Schaumkronen der Brandungswellen im Mondschein. Und dann ein Geräusch, das Gefühl einer tödlichen Bedrohung. Gleichzeitig packte eine riesige Hand zu, griff nach ihrem Kittel und hielt sie fest. Er hatte sie eingeholt! Vergeblich schlug sie mit Armen und Beinen um sich, im verzweifelten Versuch, sich loszureißen. Heiße Tränen sprangen ihr aus den Augen, während sie unerbittlich hochgezogen und ins Boot geworfen wurde. Ihr Kampfgeist war gebrochen, eine tiefe Erschöpfung legte sich bleischwer über sie, lähmte sie. Unterkühlt und entkräftet lag Emmeline keuchend
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