Zwei Herzen im Winter
bedacht, welche Folgen es haben kann, einen Edelmann anzugreifen?“
Sein anmaßender Tadel erzürnte sie. „Ihr habt kein Recht, mich zurechtzuweisen“, fauchte sie. „Was habt Ihr erwartet? Hätte ich die Beine für ihn breit machen sollen?“ Seine wettergegerbten markanten Gesichtszüge verrieten keine Regung. „Mir blieb nichts anderes übrig.“ Ihre Stimme wurde zaghafter. „Er wollte mich nicht gehen lassen … er …“ Ihre Finger begannen zu zittern. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie sich in hellem Entsetzen gegen die Zudringlichkeiten des Earls zur Wehr gesetzt hatte nach all den Misshandlungen, die sie in ihrer Ehe erdulden musste? Bedrückt senkte sie den Blick auf die erkaltenden Bratenstücke auf ihrem Holzteller.
„Die Art, wie er Euch ansieht … gefällt mir nicht.“ Talvas’ Worte und sein kalter Ton überraschten sie. Ein Angstschauer kroch ihr über den Rücken. Unruhig zerbröselte sie ein Stück Brot zwischen den Fingern.
„Er macht mir Angst“, gestand sie atemlos. Sie hatte es zugegeben. Sollte er getrost über sie lachen.
„Kein Wunder“,entgegnete Talvas.„Dieser Mensch macht sogar mir Angst.“
Verblüfft sah sie auf, ihr Blick wanderte von seinem sehnigen Hals zu den breiten Schultern und dem mächtigen Brustkorb. „Ihr …? Wie ist das möglich?“ Und dann umspielte ein schwaches Lächeln ihre Lippen. „Ihr müsst mich nicht aufmuntern. Beim nächsten Mal werde ich mich besser gegen ihn zur Wehr setzen.“
„Es wird kein nächstes Mal geben“, entgegnete Talvas, versunken in den Anblick ihres Lächelns, das ihr das Aussehen eines Unschuldsengels gab. „Guillame oder ich, einer von uns beiden, wird heute Nacht vor Eurer Kammer schlafen.“
„Das ist nicht nötig …“, wandte sie ein, doch er schnitt ihr das Wort mit einem Kopfschütteln ab.
„Genug geredet, Madame. Esst Euren Teller leer, wir brechen morgen zeitig nach Barfleur auf. Ich dulde keine Trödeleien.“
„Ich werde bereit sein“, versicherte sie, und ein Stein fiel ihr vom Herzen.
Entsetzt fuhr Emmeline aus dem Schlaf hoch, ihr Herz raste, ihr Atem flog. Sie krallte die Finger ins Laken, richtete sich kerzengerade auf und versuchte, sich den Albtraum in Erinnerung zu rufen, der sie jäh aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie strich sich die Haare aus der schweißnassen Stirn, starrte in die Dunkelheit und nahm die vertrauten Umrisse ihrer eigenen Schlafkammer wahr. Bald hatten sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt, sie warf die Pelzdecken zurück und setzte vorsichtig die Füße auf die kalten Dielen. Ihr rechter Fuß begann im kühlen Luftzug zu schmerzen. Das Nachthemd war zu dünn, also wickelte sie sich in eine der Decken, schlich auf Zehenspitzen zum Fenster, stieß den Holzladen auf und atmete die kühle Nachtluft in tiefen Zügen ein. Talvas und Guillame hatten sie gestern in einem halsbrecherischen Ritt nach Barfleur begleitet. Ihre Stute hatte sich tapfer bemüht, den anderen Pferden zu folgen, die im gestreckten Galopp dahinjagten. Trotzdem mussten die Reiter immer wieder warten, und Talvas ließ sie seinen Unmut deutlich spüren. Ansonsten sprach er kein Wort mit ihr. Endlich in Barfleur angekommen, wünschte er ihr mit einem knappen Kopfnicken eine gute Nacht.
Plötzlich entsann sie sich des Traums, der sie aus dem Schlaf geschreckt hatte. Wieder einmal hatte die Tragödie vom Tod ihres Vaters sie im Traum verfolgt, der beim Untergang seines Schiffes ums Leben gekommen war. Damals war sie fünfzehn, stand mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Sylvie auf dem Landesteg und beobachtete, wie das neueste Meisterwerk der Schiffbaukunst ihres Vaters, die Pois son , den Hafen von Barfleur verließ. An Bord befand sich eine Reihe normannischer und angelsächsischer Edelleute, die einen weiteren Sieg über den Franzosenkönig feierten. Emmeline hatte zugesehen, wie die Weinfässer an Bord gehievt wurden, die während der Fahrt durch den Ärmelkanal im Siegestaumel geleert werden sollten. Kaum eine Stunde später schaukelten diese Weinfässer inmitten zersplitterter Schiffsplanken auf den hohen Wellen, nachdem die betrunkene Mannschaft das Schiff gegen die tückisch aufragenden Felsen vor der Küste gesteuert hatte. Alle Menschen an Bord ertranken. Emmeline und ihre Familie mussten in hilflosem Entsetzen zusehen, wie die Tragödie ihren Lauf nahm. Die Todesschreie der Ertrinkenden übertönten das Rauschen der Brandung. Nun stand Emmeline am Fenster und hielt sich die Ohren zu, um die
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