Zwei Herzen im Winter
mir das Schiff noch einmal anzusehen, bevor wir die Segel setzen“, erklärte er schließlich.
„Mitten in der Nacht?“, stieß Emmeline gepresst hervor. Ihre Augen blitzten. „Ich glaube Euch nicht, Lord Talvas. Ihr führt etwas im Schilde, das spüre ich.“ Seine hohe Gestalt begann zu verschwimmen, sie taumelte und suchte Halt, um nicht zu stürzen … Talvas fing sie auf, bevor sie zu Boden sank. Seine starken Arme umfingen ihre zierliche Gestalt, der Becher rollte über den Boden, der Met ergoss sich über die Steinfliesen. An seine breite Brust gedrückt, hörte sie seine tiefe Stimme über ihrem Kopf wie durch dichten Nebel, ihre Umgebung nahm sie durch einen Schleier wahr. Sie sehnte sich nach Schlaf, nach einem hundertjährigen Schlaf, und sie lehnte das Gesicht an seine Brust und ließ sich von der Wärme seines Körpers einlullen.
Widerstrebend gestattete sich Talvas das Wohlbehagen, ihre Rundungen zu spüren. Er starrte blicklos ins Feuer, irritiert von ihrer Nähe. Marie eilte herbei und streifte Emmeline den nassen Kittel über den Kopf. Sein Blick wurde magisch vom Ausschnitt ihres Leinenhemdes angezogen, wanderte über ihren schlanken Hals zur Mulde ihres Schlüsselbeins, zum runden Ansatz ihres Busens. Der Kopf des Mädchens sank nach hinten. Er schob den Arm höher und bettete sie bequemer an seine Schulter. Ihre langen seidigen Wimpern warfen Schatten auf ihre bleichen Wangen. Verlangen pulsierte durch seine Adern, so heftig und unerwartet, dass er vor Schreck den Kopf hochriss. Sein Blick suchte Geoffrey, der die schmale Holzstiege von der Schlafkammer herunterkam, die Arme beladen mit Kleidern und einer Pelzdecke.
„Maries Kleider müssten ihr passen“, verkündete Geoffrey.
„Ja, gewiss“, sagte Marie. „Aber ich will ihr das nasse Hemd noch ausziehen.“ Sie bedachte Lord Talvas mit einem bedeutungsvollen Blick. Er nickte knapp.
„Ich warte draußen.“
Er zog die Haustür hinter sich zu, atmete die frische Morgenluft tief ein und blinzelte ins erste Tageslicht. Plötzlich überkam ihn der Drang, einen wilden animalischen Schrei auszustoßen. Seit er diese zierliche Nymphe unter dem herabstürzenden Kran weggerissen, seit sie hilflos unter ihm auf dem Steg gelegen hatte, quälte ihn dieses Verlangen, sie zu besitzen. Zum Teufel, er kannte das Mädchen erst seit drei Tagen – konnte er sich so wenig beherrschen? Er sollte schleunigst eine Hure aufsuchen, um seine Begierden zu stillen! Hatte er denn nichts aus seiner Vergangenheit gelernt? Sein unsteter Blick wanderte den Küstenstreifen entlang, wo die ersten Hafenarbeiter ihr Tagwerk begannen, folgte einem Fischerboot, das aufs Meer hinausfuhr. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Erinnerungen stürmten auf ihn ein, zu mächtig, um sie bannen zu können.
Er hätte ihr verzeihen können, als sie ihn verließ. Sein jugendlicher Ehrgeiz und seine Liebe zur See hatten die kurze Zeit ihres Zusammenseins überschattet. Und sie war den Verlockungen eines Lebens in Luxus und Reichtum erlegen. Was er ihr nie verzeihen konnte, war die Tatsache, dass sie ihm sein Kind weggenommen hatte: Sie war einfach mit dem Säugling verschwunden. Und manchmal glaubte er, nur geträumt zu haben, dass sie ihm eine Tochter geboren hatte. Aber er hatte das strampelnde Baby in den Armen gehalten, den dunklen seidigen Haarflaum bewundert, das runde rosige Gesicht, die winzigen Finger, die mit erstaunlicher Kraft seinen Daumen umklammerten. Und er hatte das zufriedene Glucksen gehört, das ihm das Herz vor Liebe überfließen ließ. Talvas starrte aufs Meer hinaus und versuchte, seine düsteren Gedanken zu vertreiben. Die Brust war ihm zugeschnürt, Schuldgefühle lasteten auf seinem Herzen. Einige Monate nach ihrem plötzlichen Verschwinden hatte er erfahren, dass seine kleine Tochter gestorben war.
Hinter ihm knarrten die Scharniere der Eichentür. Er drehte sich nach Geoffrey um, froh, aus seinen düsteren Gedanken geholt zu werden. „Wie geht es dem Mädchen?“, fragte er teilnahmslos.
Geoffrey lächelte. „Marie hat sie angezogen, und wir haben ihr ein Lager vor dem Feuer bereitet. Aber ihr ist noch immer kalt.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Sagt mir, Mylord … wie weit ist sie eigentlich geschwommen?“
Talvas blickte zur Belle Saumur hinaus, die sanft im ruhigen Wellengang schaukelte. „Beinahe die ganze Strecke.“
Geoffrey pfiff durch die Zähne. „Alle Achtung. Ich wusste, dass sie schwimmen kann, aber diese Entfernung
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