Zwei Herzen im Winter
weißen Zähne. „Vielleicht braucht Ihr aber Unterstützung gegen ihn.“ Er wies mit dem Kinn zur Straße hinüber.
Ein Frösteln lief Emmeline über den Rücken, als Earl Robert der Kaiserin half, vom Ochsenkarren zu steigen, wollte sich aber ihr Unbehagen beim Anblick des hageren hochmütigen Edelmanns nicht anmerken lassen.
„Ich denke, er hat seine Lektion gelernt“, stellte sie grimmig fest.
„Mag sein, aber mächtige Männer lassen sich nicht gern demütigen.“ Talvas blickte forschend in ihr verschlossenes Gesicht und fragte sich, ob sie wohl Ähnlichkeiten zwischen dem Earl und ihrem Ehemann festgestellt hatte.
Auf ihrer Stirn bildete sich eine steile Falte. „Lord Talvas, lasst das bitte!“
„Was denn?“, fragte er leichthin.
Sie nestelte an den Bändern ihres Umhangs. „Ihr behandelt mich anders … seit Ihr … mein verletztes Bein gesehen habt“, murmelte hastig. „Bitte lasst das.“ Sie senkte beschämt den Blick.
Er hob ihr mit einem Finger das Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Wäre Euch Gleichgültigkeit lieber?“
„Nein … aber …“ Wie sollte sie ihm erklären, dass sie mit Gleichgültigkeit besser umgehen konnte?
Talvas legte den Kopf seitlich und wartete auf Antwort. Emmeline verzog das Gesicht. „Um Worte verlegen, Madame?“, neckte er. „Das kann ich mir nicht denken.“
„Ach, lasst mich zufrieden und kümmert Euch um Eure Mannschaft“, fauchte sie schließlich gereizt. „Ich brauche Eure Hilfe nicht.“ Der Wind wehte ihr den Schleier ins Gesicht, den sie mit einer unwirschen Handbewegung nach hinten wischte. „Die Kaiserin scheint ihre gesamte Garderobe eingepackt zu haben.“
„Das Privileg hochgestellter Persönlichkeiten“, bemerkte er trocken. „Aber die Kaiserin bringt noch eine besondere Fracht: den Grund, warum sie so überstürzt nach England reist.“ Er wies zu einem weiteren Karren hinüber, von zwei kraftvollen Ochsen gezogen, die sich den Weg durch eine Menschenansammlung bahnten. Die Bewohner von Barfleur waren zum Hafen geeilt, um einen Blick auf die gefürchtete Kaiserin Maud zu werfen.
„Nicht noch mehr Zeug!“, entfuhr es Emmeline aufgebracht. „Ich muss mit ihr sprechen.“
Sie wandte sich zum Gehen, doch Talvas hielt sie am Arm zurück.
„Wartet!“, befahl er. „Habt Ihr Euch nicht gefragt, warum sie unbedingt zu dieser gefährlichen Jahreszeit den Ärmelkanal überqueren will?“
Emmeline blickte ihn argwöhnisch an, ein Gefühl drohenden Unheils keimte in ihr auf. Seine Augen lagen im Schatten seines tief in die Stirn gezogenen Lederhuts, dennoch entging ihr das Funkeln seiner blauen Augen nicht.
„Nun redet schon“, forderte sie und trat einen Schritt näher. Er bemerkte die dunklen Ringe in ihrem von Schlaflosigkeit gezeichneten Gesicht.
„Seht doch!“ Er drehte sie sanft um. Emmeline beobachtete, wie vier Männer ein langes, in weiße Tücher gehülltes Bündel behutsam aus dem Karren hoben, es auf ihre Schultern legten und die Last vorsichtig über die Steine hinunter zu einem wartenden Kahn brachten.
„Ein Leichnam“, entfuhr es ihr ungläubig. „Talvas, wer ist das?“
„Mauds Vater, König Henry.“
Emmeline schlug sich die Hand vor den Mund. „Ich hatte keine Ahnung“, murmelte sie.
Talvas lächelte nachsichtig. „Nur eine Handvoll Menschen wissen davon. Es ist der ausdrückliche Wunsch der Kaiserin, seinen Tod geheim zu halten, bis sie England erreicht.“
„Aber warum?“
„Weil sie den Anspruch erhebt, Königin von England und der Normandie zu werden.“
„Aber warum diese Hast? Wieso bringt sie sich und den Leichnam ihres Vaters in Gefahr?“ Emmeline krümmte die Zehen in ihren Winterstiefeln. „Die Krone steht ihr doch zu! Warum muss sie nach England reisen, um ihre Ansprüche persönlich geltend zu machen?“
„Es gibt noch einen weiteren Bewerber. Die englischen Untertanen würden lieber den Vetter der Kaiserin auf dem Thron sehen.“
„Kein Wunder. Er ist schließlich ein Mann“, entgegnete Emmeline bissig.
Talvas neigte den Kopf. „Davon gehe ich aus.“ Mit leicht verengten Augen schaute er dem Boot nach, das zum Schiff gerudert wurde. „Aber Stephen ist auch ein fähiger und aufrechter Mann.“
„Kennt Ihr ihn denn?“
„Er ist mit meiner jüngsten Schwester Matilda verheiratet.“
Emmeline furchte die Stirn. „Wird man Euch zwingen, Partei zu ergreifen?“ Sie beobachtete, wie die Kaiserin mühsam, von zwei Hofdamen gestützt, den beschwerlichen Weg durch den
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