Zwei Herzen im Winter
nickte, da sie sich scheute, ihre Mutter mitten in der Nacht zu wecken. Der Weg bis zum Haus ihrer Freunde schien ihr in ihrem geschwächten Zustand unendlich weit zu sein. Ihr Bein schmerzte unerträglich. Sie blieb einen Moment stehen, um den verletzten Fuß zu entlasten.
„Hier, nehmt meinen Arm“, bot er ihr ungeduldig an.
„Es dauert nur einen Moment“, fauchte sie. „Geht voraus, ich komme nach.“
„Habt Ihr Schmerzen, Madame?“, fragte er unvermutet. „Habt Ihr Euch verletzt?“
„Nein, es ist nichts … nur ein leichter Wadenkrampf“, behauptete sie. Sein herablassender Spott über ihre Behinderung hätte ihr gerade noch gefehlt. Wortlos schob er seine Hand unter ihren Arm, zog sie an seine Seite und half ihr die Böschung hinauf.
„Eure Mutter hätte gewiss etwas gegen Euren nächtlichen Ausflug einzuwenden“, bemerkte er auf dem Weg zu den dunklen Häusern am Hafen.
„Wieso? Sie trägt keine Verantwortung für das, was ich tue“, entgegnete sie abweisend und biss die Zähne aufeinander.
„Dann wird es Zeit, dass jemand die Verantwortung für Euch übernimmt.“ Er lachte. „Denn Ihr seid eine ständige Gefahr für Euch selbst, Madame.“
7. KAPITEL
Geoffrey und Marie, die vor Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen wurden, erschraken zutiefst beim Anblick ihrer triefendnassen Freundin, die von Lord Talvas of Boulogne ins Haus gebracht wurde. Emmeline stand vor Kälte schlotternd in der Wohnstube, zu ihren Füßen bildeten sich Wasserpfützen, während die beiden sich rührend um sie kümmerten. Marie drückte den Besuchern je einen Becher Honigwein in die Hand, während Geoffrey die Glut in der Feuerstelle aufstocherte und Torfstücke hineinwarf, bis rötliche Flammen züngelten. Danach hängte er einen Kessel Wasser in den Eisenhaken über dem Feuer.
Immer noch vor Kälte zitternd, hatte Emmeline in ihrer Erschöpfung Mühe, Worte der Erklärung zu finden. Warum war Talvas auf dem Schiff gewesen? Die Gegenwart des Hünen hinter ihr verwirrte sie und lähmte ihren Verstand. Sie wünschte, er würde endlich gehen.
„Marie, es tut mir leid, euch so früh aus dem Bett geholt zu haben …“ Emmeline machte einen vorsichtigen Schritt vorwärts, ein stechender Schmerz fuhr ihr ins rechte Bein. Marie, die am Feuer kauerte, wandte sich zu ihr um.
„Was ist geschehen?“
„Eure Freundin hat offenbar die unselige Angewohnheit, sich ständig in Gefahr zu bringen.“ Talvas’ harsche Stimme erfüllte den kleinen Raum, er gab ihr nicht einmal Gelegenheit, selbst zu antworten. „Ich erwischte sie an Bord ihres Schiffes, und sie sprang ins Meer, um mir zu entkommen.“
„Ihr habt mich an Bord meines Schiffes erwischt?“, wiederholte Emmeline sarkastisch, während Marie sich vor Schreck die Hand vor den Mund schlug. „Es ist mein gutes Recht, auf meinem Schiff zu sein, was Euch keineswegs zusteht.“
Marie starrte ihre Freundin nun entgeistert an. „Du bist ins Meer gesprungen? Großer Gott!“ Emmeline straffte die Schultern und reckte das Kinn. Es war nicht ihre Schuld! Was hätte sie sonst tun sollen unter den gegebenen Umständen?
Talvas war an der Tür stehen geblieben und beobachtete das Profil der aufsässigen jungen Frau, die er aus dem Wasser gefischt hatte. Ein anschauliches Beispiel einer ungestümen und leichtfertigen Person, die nur das tat, was ihr gefiel, da sie niemandem Rechenschaft schuldete. Allerdings faszinierte ihn ihre Furchtlosigkeit. Als ihre nassen Kleider in der Wärme des Feuers zu dampfen begannen, nahm er einen Hauch ihres Duftes nach Lavendel und Rosen wahr, der seinen Sinnen schmeichelte. Sein Blick glitt über ihre zerzausten langen Zöpfe, die ihr über den schmalen Rücken hingen und bis zu den Rundungen ihrer Hüften reichten. Unvermutet drehte sie sich nach ihm um, klar und eindringlich blickten ihre großen grünen Augen, umrahmt von dunklen Wimpern, ihn an.
„Nun? Ihr schuldet mir eine Erklärung“, forderte sie schroff. Die hünenhafte Gestalt ließ die Stube noch kleiner wirken; sein schwarz gelockter Scheitel stieß beinahe gegen die Deckenbalken. Er gab ihr das Gefühl, zwergenhaft zu sein. Talvas trat einen Schritt in die Stube, stellte den leeren Becher auf den blank geschrubbten Tisch und näherte sich ihr, ein bedrohlicher Riese im flackernden Feuerschein. Schwindel drohte sie zu übermannen, sie suchte Halt am Tisch. Hitze stieg in ihr auf, und ihr war, als sei ihr heißer Kopf von ihrem eisigen Körper getrennt.
„Ich beschloss,
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