Zwei Seiten
Julia wirkte fast wie ein Kind. Wenn auch ein zugegebenermaßen ziemlich großes.
»Guten Morgen«, sagte ich. »Wir sind ja auch früh schlafen gegangen.«
Julia nahm am Frühstückstisch Platz. »Punkt für dich.«
Ich setzte mich ihr gegenüber und goss Julia eine Tasse Kaffee ein. »Wann geht der Flug?«
»Um fünf.« Sie nahm sich einen Toast. »Wann hat Oliver eigentlich gestern angerufen?«
Oh, verdammt. Daran hatte ich ja gar nicht mehr gedacht. Er hatte sich doch melden wollen. Ohne etwas zu sagen, stand ich auf und eilte in mein Zimmer. Auf dem Nachttisch lag mein Handy. Es war aus. Der Akku war leer. Ich hatte es nicht bemerkt und auch das Ladekabel nicht dabei. Wie hatte ich bloß vergessen können, dass Oliver anrufen wollte? Mit kleinen Schritten marschierte ich wieder in die Küche. »Der Akku ist leer. Er hat vermutlich den ganzen Abend versucht, mich zu erreichen.«
Julia legte ihre Scheibe Brot zur Seite. »Warum hat er dann nicht auf meinem Handy angerufen?«
»Vielleicht hat er das ja. Wir waren doch im Wohnzimmer, und wenn ich mich recht erinnere, hast du gestern dein Handy nach der Pizzabestellung wieder in dein Zimmer gebracht.«
Julia stand ruckartig auf und hastete in ihr Zimmer. Einen Augenblick später kam sie wieder und zeigte mir ihr Handy. »Sieben Anrufe. Alle von Oliver. Wie konnten wir das überhören?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Kann ich dein Handy benutzen?«
Julia nickte und reichte es mir.
Eilig wählte ich Olivers Nummer.
»Jaaa?« Die Stimme am anderen Ende klang verschlafen.
»Oliver, ich bin‘s. Es tut mir leid, mein Akku war alle, und ich hab‘s nicht gemerkt. Und wir waren lange im Wohnzimmer, deshalb hat Julia ihr Handy auch nicht gehört.«
Stille.
»Oliver?«
»Ja.«
»Es tut mir leid.«
Wieder Stille. Dann ein Räuspern. »Was habt ihr so lange im Wohnzimmer gemacht? Es war kurz nach zwei beim letzten Versuch. Und warum habt ihr das Handy nicht gehört?«
Ohne nachzudenken, sagte ich ihm die Wahrheit: »Wir haben geschlafen.« Oh ohhh, das konnte man leicht missverstehen.
»Was heißt geschlafen?« Oliver war deutlich lauter als sonst.
Julia schien ihn gehört zu haben, denn sie schaute mich mit großen Augen an.
»Wieso schläfst du mit meiner Schwester im Wohnzimmer ein? Es kann ja nur auf der Couch vorm Kamin gewesen sein. Was zur Hölle treibt ihr da?«
»Oliver, bist du verrückt geworden? Wir treiben überhaupt nichts. Ich …«
Julia riss mir das Handy aus der Hand und ich zuckte zusammen. »Oliver, bist du betrunken? Wie redest du mit Scarlett? Und warum unterstellst du uns, dass wir …« Sie holte tief Luft. »Ich würde niemals so etwas machen, das weißt du.«
Ich konnte nicht hören, was Oliver antwortete.
»Ja, ich weiß, Oliver. Nein, es ist okay. Bei mir musst du dich nicht … ja. Nein, das glaube ich nicht. Das … das muss sie entscheiden. Ich weiß das nicht. Wie? … Nein, hat sie nicht. Und es ist auch nicht an mir, darüber zu … Oliver … Oliver, es ist gut. Ja, mach ich. Ja, um kurz nach sechs. Okay, bis dann.« Julia legte auf.
»Was ist los?«
»Er holt uns vom Flughafen ab. Ich denke, er will mit dir sprechen.«
Ich nickte. Wenn ich ehrlich war, hatte ich ernsthaft darüber nachgedacht, Schluss zu machen. Aber er schien offenbar zu denken, ich und Julia … Gott, allein bei dem Gedanken wurde mir schlecht.
»Was denkst du, Scarlett?«
Ich schaute auf. »Ich bin unsicher, was ich jetzt tun soll. Ich hatte noch nie einen Freund, der so eifersüchtig war.«
Julia schüttelte den Kopf. »Eigentlich ist er nicht so. Keine Ahnung, was in ihn gefahren ist.«
Was sollte ich bloß tun? Ich konnte jetzt unmöglich Schluss mit ihm machen. Er würde am Ende sonst wirklich denken, dass ich … wie absurd. Andererseits war ich mir nicht sicher, was mich mehr störte: mit einem Mann zusammen zu sein, für den ich außer Sympathie nichts empfand, oder für eine … Lesbe gehalten zu werden. Vor einem Monat hätte ich nicht mal darüber nachgedacht. Selbstverständlich wäre ich bei Oliver geblieben. Aber jetzt?
* * *
Mit zwei Tassen heißem Kakao betrat ich den Panoramaraum.
Julia stand an der Glasfront mit dem Rücken zu mir und blickte auf das graue Meer hinaus.
Ich stellte die Tassen auf einen der beiden Couchtische und ging zu Julia. Neben ihr blieb ich stehen und legte den Arm um ihre Taille. Es war schon merkwürdig, aber ich hatte meine Angst, sie zu berühren oder von ihr berührt zu werden, während
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