Zwei sündige Herzen: Roman (German Edition)
Wasserfälle, noch ehe der Abhang in Sicht kam. Meredith hörte und fühlte es zugleich: das dunkel grollende, dramatische Rauschen. Das war nicht die munter plätschernde Melodie des Stroms, sondern deren unheilvolles Crescendo. Der Klang der Wassermassen schwoll zu einer schauerlichen Kakophonie an, ehe sie ins Unbekannte hinabstürzten.
Rhys erhob die Stimme über den Lärm. »Wenn du mich fragst, war es deine Bestimmung.«
»Meine Bestimmung?« Meredith lachte auf. »Du klingst abergläubisch wie die alten Moorbewohner. Wie kannst du nur an so einen Unsinn glauben?«
»Wieso nicht? Meinst du denn wirklich und wahrhaftig, dass alles bloß Zufall ist? Eine Welt ohne Sinn und Verstand?«
»Mitnichten. Ich glaube an harte Arbeit und klare Entscheidungen. Ich glaube, die Menschen ernten, was sie gesät haben.«
Bevor sie die Fälle erreichten, blieben sie stehen. Der Abhang war unerwartet steil. Aufgrund des Höhenunterschieds sah es aus, als träfe der Strom auf eine Wand aus Glas. Immer noch Händchen haltend liefen sie weiter zu den Geröllbergen, die die Fälle einfriedeten.
»Sieht noch ganz so aus wie in meiner Erinnerung«, stellte er fest und spähte über den Rand.
Meredith wagte sich zu ihm vor, bis ihre Zehen die Felsklippe berührten, und folgte seinem Blick. Das Wasser stürzte sich steil in die Tiefe, in einen fast kreisrunden See, der sich mehrere Meter unterhalb befand. Eine sattgrüne Oase säumte das Wasser – Bäume, Sträucher, Farne. Wogende Äste beschatteten den Teich, bis auf einen Fleck in der Mitte, auf den das Sonnenlicht goldene Reflexe warf.
Selbst bei hellem Tageslicht, selbst für eine Frau, die sich den dreißig näherte, mit einem Berg schnöder Aufgaben, die ihrer zu Hause harrten, und wahrlich wenig Hang zur Fantasie, sah dieser Ort wie verzaubert aus. Der See mutete wie ein funkelndes, kostbares Juwel an, das in den weich fließenden Stoff des Erdengewands eingenäht war. Seit ihrer Kindheit hatte dieser magische Anblick Meredith’ Fantasie und ihre Emotionen beflügelt.
Rhys schien von dieser Schönheit nicht minder berührt. Seine Stimme klang kehlig rau. »Du bist also überzeugt, dass die Menschen das ernten, was sie säen?«
Sie nickte.
»Nun, schau dir diesen Ort an.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf den versteckten See. Dann drehte er sich zu ihr, hob seine freie Hand und strich ihr über die Wange. »Schau dich an.«
Ehe sie ob der Widersinnigkeit eines solchen Vergleichs protestieren konnte, hauchte er einen zarten Kuss auf ihre Lippen. Dann noch einen.
Als er weitersprach, kam seine Stimme irgendwo tief aus seiner Brust, als hielte er den Atem an. »Dieser Augenblick muss eine Fügung des Schicksals sein. Weil, das schwöre ich dir, ich nichts getan habe, dass ich dergleichen verdient hätte.«
Er küsste sie abermals, und sie klammerte sich an ihn, berauscht von der Höhe der Klippen, den hinabstürzenden Fällen und der weichen, köstlichen Glut seiner Lippen auf ihren. Wie konnte das sein? Als Mädchen war sie verrückt nach ihm gewesen, aber das hatte sie einer jugendlichen Schwärmerei zugeschrieben. Sie hatte die Geschicke seines Lebens über ein Jahrzehnt hinweg akribisch verfolgt und sich eingeredet, es wäre bloße Neugierde. Und jetzt … jetzt begehrte sie ihn so sehr, dass es ihr nachgerade den Boden unter den Füßen wegzog. Aber das war gewiss bloß Lust, oder?
»Schicksal? So etwas gibt es nicht, Rhys.«
»Doch, gibt es«, beteuerte er. »Du bist mein Schicksal. Und ich bin deins.«
Ihr Weltbild begann zu trudeln. Sie entzog sich Rhys’ Umarmung. »Du willst doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass du an Derartiges glaubst. Und darauf wartest, was das Schicksal dir bringen mag?«
Er zuckte lediglich mit den Achseln, dann stieß er mit der Stiefelspitze einen kleinen Stein ins Wasser. »Das ist es, was ich im Laufe meines Lebens gelernt habe. Schicksal ist Schicksal. Was auch geschieht, es geschieht so, wie es einem vorbestimmt ist. Sinnlos, sich dagegen aufzulehnen.«
» Sinnlos?«
Meredith blitzte ihn an. Seine Ausführungen beleidigten zusehends ihren Stolz. Sie sträubte sich gegen die Vorstellung, dass ihre ganze Arbeit und die vielen Opfer, die sie in den letzten zehn Jahren gebracht hatte, sinnlos gewesen wären. Es konnte nicht sein, dass es einerlei war, ob sie nun einen gichtgeplagten alten Gastwirt geheiratet oder ihre Tage im Armenhaus zugebracht hätte; dass sie heute unter egal welchen Umständen hier in diesem
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