Zweibeiner sehen dich an
Fritz, aber wenn wir dir für diese Arbeit Bonbons geben würden, wäre das gegenüber Emma nicht fair. Nicht wahr, Wenzel?“
Wenzel, der den Zweifüßler mit einem kalten, unnachgiebigen Blick fixierte, antwortete nicht. Grück fuhr fort: „Wenn du dich bis heute nachmittag verbesserst, werden wir weitersehen. Bis dahin …“ Er nahm eine einzige Seite aus dem Körbchen des Zweifüßlers, überblickte sie kurz und schnalzte mit der Zunge. „Nicht in Ordnung, nicht in Ordnung“, sagte er dabei und stieß Fritz mit seinem wulstigen Finger in die Sei te. „Hier sind Fehler, Fritz! Du hast wenig getan, und das auch noch schlecht. – Und wo sind die Durchschläge?“
„Von Durchschlägen wußte ich nichts“, erwiderte der Zweifüßler, langsam ärgerlich werdend. „– Und was das Schreiben anbetrifft, so habe ich Ihnen bereits erklärt, daß dieser Tierkörper für mich etwas Unbekanntes darstellt. Zeigen Sie mir doch, wie Sie mit den Fingern eines anderen schreiben können! Es würde mich ebenfalls interessieren, was dabei herauskommt!“ Er fühlte sich ein wenig schwindlig, aber er schimpfte weiter, ohne daran zu denken, was er sich damit einbrocken konnte. „Sie können Ihren ganzen verdammten Zoo nehmen und …“ Er hielt Grück drohend die geballte Faust unter die Nase. „Ach, rutschen Sie mir doch den Buckel ’runter!“
Der ganze Raum neigte sich plötzlich nach links: die Wände, Grück, Wenzel, der Wärter, Emma und all das, was sonst noch da war. Er schlug auf das Pult, um es festzuhalten, aber es glitt unter seiner Hand weg und schlug ihm eine Beule mitten ins Gesicht. Er hörte, wie Grück und der Wärter aufschrien und Emma piepste irgendwo im Hintergrund. Dann erlosch sein Interesse an all diesen Dingen und er verlor sich hinter einer grauen Wand.
„Ruhig liegen bleiben“, sagte eine verdrossene, aber beruhigende, Stimme. Der Zweifüßler blickte auf und erkannte das gigantisch wirkende Gesicht von Prinz, dem Chirurgen, dessen große braune Augen über ihm schwammen, während sein Mund nervös zuckte. „Schock und Überlastung“, sagte Prinz über seine Schulter hinweg. Der Zweifüßler sah, daß noch zwei oder drei andere Personen anwesend waren. Ihm wurde langsam bewußt, daß er lag, und zwar auf dem Feld bett, das im hinteren Zimmer des Käfigs stand. Er fühl te sich seltsam kraftlos und geschwächt.
„Es ist alles in Ordnung“, sagte Prinz beruhigend. „Du hast einen Moment lang die Besinnung verloren, das ist alles. Das kann jeder hochentwickelten Kreatur passieren. Bleib’ ruhig liegen, Fritz, und ruhe dich etwas aus.“ Er verschwand aus dem Blickfeld. Grücks Stimme sagte etwas und Prinz antwortete „Nichts, er wird morgen wieder in Ordnung sein.“ Auf dem Be tonboden erklangen Schritte, und der Zweifüßler hörte mehr im Unterbewußtsein die Worte: „Ein Glück, daß es keine organische Krankheit ist, Herr Doktor. Was wissen wir denn schon über die innere Konstitution dieser Viecher? Nichts, überhaupt nichts.“
Wenzel sagte kurzangebunden: „Wenn wir die Möglichkeit hätten, einen von ihnen zu sezieren …“ Dann gingen die Männer hinaus und der Zweifüßler lag da und starrte auf die farblose Decke. Die Türen schlossen sich, dann war Stille, bis auf die leise Musik, die von irgendwo an seine Ohren drang. Kein Laut drang aus dem Inneren des Büros oder aus Emmas Zimmer nebenan. Der Zweifüßler stand auf, trank einen Schluck Wasser und stellte fest, daß er hungrig war. Sein Tablett stand auf einem Klapptisch neben seinem Lager. Er setzte sich und aß das graubraune Schmorfleisch und nahm einen der runden Klumpen aus trockener, grüner Masse – das ‚Bonbon’, wegen dem Grück so viel Aufhebens gemacht hatte.
Der Zweifüßler steckte das seltsame Ding vorsichtig in den Mund und wartete die Wirkung ab. Der Klumpen, der sich auf der Zunge fast so trocken anfühlte wie er aussah, hatte einen delikaten Geschmack, der sich stark von dem unterschied, was er bisher probiert hatte: er war nicht süß, nicht salzig, nicht sauer und auch nicht bitter. Die Augen des Zweifüßlers schlossen sich ungewollt, als er das Bonbon lutschte, es kleiner und feuchter wurde und sich schließlich auflöste. Er nahm das zweite. Anschließend lag er bewegungslos da, die Augen noch immer geschlossen, und dachte über dieses Ding nach. Tränen drangen in seine Augen. Wie war es möglich, daß er sogar in der Gefangenschaft, verzweifelt wie er war, plötzlich Freude
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